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Der Tiger im Brunnen

Der Tiger im Brunnen

Titel: Der Tiger im Brunnen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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»Dann erfuhr der Zaddik, dass das Dienstmädchen etwas ausgeplaudert hatte. Zur Strafe überließ er sie Michelet. Ich weiß nicht, was er ihr angetan hat, aber ich habe sie nie wiedergesehen. Und ich weiß, dass grausame Strafen im Haus des Zaddik üblich waren. Einmal hat er einen Dienstboten mit der Knute auspeitschen lassen. Diese Strafe wird nicht einmal mehr in Zuchthäusern angewandt. Der Mann überlebte die Tortur nicht. Aber keiner hob auch nur einen Finger, um zu protestieren.«
    Sie hielt inne, trank einen Schluck Tee und fuhr fort: »Ich war mit dem Dienstmädchen befreundet, deshalb wollte ich etwas tun, um sie zu rächen. Ich wusste, dass der Zaddik bald wieder verreisen würde, mir blieb also nicht viel Zeit. Ich drang in sein Haus ein und … Ja, eigentlich wusste ich nicht so genau, was ich tun konnte. Sein Gepäck stapelte sich im Flur. Ich hatte es gerade entdeckt, da ging auch schon die Alarmglocke los. Männer kamen von überall her gelaufen. Sie schleiften mich in den Keller …«
    Wieder hielt Rebekka inne. Ihr Gesicht zeigte keinerlei Ausdruck. Sally nahm ihre Hand und drückte sie mitfühlend.
    »Nach einiger Zeit hatten sie wohl genug. Sie warfen mich auf die Straße. Den Zaddik habe ich nie wieder gesehen. Ich bin also gescheitert, abgesehen von – «
    Von der Haustür kam ein Pochen, das Rebekka sofort verstummen ließ. Sally spürte an der Hand, die in ihrer lag, dass das Mädchen von Furcht ergriffen wurde, und drückte sie fester. Alle saßen wie erstarrt da.
    Draußen wurde gerufen, aber in welcher Sprache, konnte Sally nicht sagen. Dann waren Schritte im Flur zu hören und plötzlich wurde die Küchentür aufgestoßen. Morris Katz sagte atemlos: »Polizei – schnell. Der Keller – hier entlang – « Er schloss die Küchentür ab und zog einen Vorhang hinter dem Schaukelstuhl zur Seite. Das Pochen an der Haustür wurde lauter und deutlich waren Rufe zu vernehmen. »Aufmachen! Polizei!«
    Katz schob Sally und Rebekka vor sich her. »Dahinunter!«, sagte er.
    Hinter dem Vorhang befand sich eine niedrige Tür. Katz riss sie auf, und eine Treppe, die ins Dunkle führte, kam zum Vorschein. Sally bückte sich und folgte Rebekka die ersten Stufen nach unten, da hörte man ein krachendes Geräusch von draußen.
    »Die Haustür!«, rief Sally und drehte sich um.
    Sie sah aber nur Katz, der den Finger auf die Lippen legte und die Kellertür von außen schloss.
    Einander die Hände haltend, saßen Sally und Rebekka in völliger Dunkelheit auf den Stufen der Treppe und lauschten.
    Eine tyrannische Stimme sagte: »Mr Morris Katz, ich glaube, Sie verstecken einen polizeilich gesuchten Mann in Ihrem Haus – «
    Katz antwortete mit einem Schwall Jiddisch, doch die Stimme unterbrach ihn grob: »Schluss jetzt! Ich suche einen Mann namens Goldberg. Ist er hier im Haus?«
    Sally drückte fest Rebekkas Hand. Sie hatte gedacht, dass sie es sei, nach der gesucht wurde …
    »Nein«, sagte Morris Katz. »Haben Sie überhaupt einen Durchsuchungsbefehl?«
    Man hörte Papierrascheln.
    »Zufrieden? Na dann. Constable Bagley, Sie schauen oben nach. Ich sehe mich hier im Erdgeschoss um. Wissen Sie eigentlich, Mr Katz, dass dem Flüchtigen ein Mord angelastet wird? In seiner Heimat wartet die Todesstrafe auf ihn.
    Wie machen die das eigentlich in Österreich-Ungarn? Werden die Verurteilten aufgehängt oder kommen sie unters Fallbeil?«

 
Henna
     
     
    »Aber was hat er bloß getan?«, fragte Sally mit bebender Stimme. »Was für ein Verbrechen legt man ihm zur Last?«
    Es war eine halbe Stunde später. Sally und Rebekka hatten die meiste Zeit im Dunkeln gesessen und nicht einmal zu flüstern gewagt, während über ihnen schwere Schritte hin und her gingen und laute Stimmen durch das Haus riefen. Schließlich war die Polizei wieder abgezogen, nicht ohne Mr Katz eindringlich gewarnt zu haben. Erst nach weiteren fünf Minuten öffnete Katz die Geheimtür.
    Sally konnte an nichts anderes denken als an diese neue Bedrohung. Was sollte sie tun, wenn Goldberg verhaftet würde? Sollte er – und wieder stieg diese schreckliche Furcht in ihr auf – sollte er wirklich ein Verbrecher sein?
    »Das ist eine politische Sache – kein Verbrechen«, versuchte ihr Morris Katz zu erklären, obwohl er selber auch nicht viel mehr wusste. »Man wirft ihm vor, er halte sich illegal in diesem Land auf, er soll – ich weiß nicht …«
    »Aber ein Todesurteil?« Sie brachte es kaum über die Lippen.
    »In England wird man

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