Der Tiger im Brunnen
wegen politischer Umtriebe nicht gleich hingerichtet. In anderen Ländern dagegen lastet man politisch missliebigen Personen irgendwelche Vergehen an, jeder Vorwand ist ihnen recht.«
»Aber es heißt, er sei ein Mörder …«
»Sie würden ihm alles anhängen. Goldberg ist nicht so. Sicher, er ist eine Kämpfernatur, aber – «
Dann erinnerte sich Sally daran, dass Rebekka zuvor, ehe an die Tür gepocht wurde, etwas sagen wollte. Sie fragte sie danach.
»Rebekka, als die Polizei kam, warst du gerade dabei, uns zu erzählen, du hättest nichts unternehmen können, abgesehen von …«
»Abgesehen von … – Ah! Der Zaddik, ja?«
»Ja, genau. Du sagtest, du seist erfolglos gewesen, abgesehen von einer Sache … Und dann kam die Polizei. Erinnerst du dich?«
Sally klammerte sich an Rebekkas Geschichte, denn trotz der neuen Angst um Goldberg spürte sie, dass die Lösung des Rätsels zum Greifen nahe war.
»Ah, jetzt weiß ich es wieder«, sagte Rebekka. »Als ich im Haus des Zaddik war, sah ich sein Gepäck.«
»Ja, das hast du schon gesagt. Und?«
»Die Gepäckstücke hatten Adresszettel. Einen habe ich mitgenommen. Ich weiß nicht, warum ich nicht früher daran gedacht habe. Hier ist er, ich habe ihn bei mir …«
Sie kramte in ihrer Tasche und einen Augenblick später hatte sie ihn gefunden. Er war zerknüllt, aber die Aufschrift war noch zu lesen: H. LEE, FOURNIER SQUARE 12, SPITALFIELDS, LONDON.
»Das also ist sein Name«, sagte Rebekka. »Oder zumindest einer von ihnen: Lee. Und die Adresse – Spitalfields …«
Der Name ging ihr nicht leicht über die Lippen. Er klang irgendwie fremd. Alle Laute mussten vorn im Mund gebildet werden, anders als bei Wörtern, die sie zu formen gewohnt war. Doch Sally bemerkte das gar nicht. Sie ballte die Hände zu Fäusten und schwang sie hin und her, als ob ihr das beim Erinnern helfen könnte.
»Sally, was ist los?«
Dann hatte sie es. Ganz am Anfang hatte Mr Bywater, der Kanzleiangestellte, ihr gegenüber einen Fall erwähnt, von dem ihm ein Freund berichtet hatte: Lee gegen Belcovitch. Wie Lee den armen Belcovitch um sein Geschäft gebracht und Parrish als Geschäftsführer eingesetzt habe. Das, so hatte Bywater damals gesagt, beweise doch, dass Lee der Mann hinter Parrish sei, auf den es ankomme und der das Sagen habe. Wie hatte sie das nur vergessen können? Und die Adresse im Zusammenhang mit diesem Fall war ein Haus in Spitalfields mit einem französisch klingenden Namen, der mit F begann –
»Das ist er!«
Sie bemühte sich Rebekka auseinanderzusetzen, was das alles bedeutete und wie sie in die Geschichte verwickelt war. Es brauchte einige Zeit, bis sie ihr von Harriet und Parrish und ihrer Flucht in die Sozialmission berichtet hatte, aber danach verstand Rebekka sie viel besser und betrachtete sie mit anderen Augen. Mitleid und auch ein wenig Neid spiegelten sich darin. Sally erinnerte sich, dass Rebekka ebenfalls ein Kind gehabt hatte und dass es gestorben war.
Doch die ganze Zeit über nagte die Angst um Goldberg an ihr. Kaum war sie mit der Schilderung ihres eigenen Falles fertig, kam sie auf ihn zurück.
»Wir müssen einen Rechtsanwalt für ihn finden. Es muss doch einen Weg geben, seine Auslieferung zu verhindern. Hat er einen Anwalt? Wissen Sie mehr über ihn, Mr Katz? Ich kenne ihn ja kaum … Aber wir müssen einen Anwalt finden.«
Morris Katz zuckte mit den Schultern. »In der Dean Street in Soho wohnt ein Mann, der sich mit solchen Sachen auskennt …«
»Mr Wentworth!« Sally fiel der Name des Rechtsanwalts ein, von dem Margaret Haddow gesprochen hatte und der ihr helfen wollte. Wann war das gewesen? Erst heute?
Sie stand auf – aber zu schnell, so dass ihr schwindlig wurde und sie bei Rebekka Halt suchen musste, die ebenfalls aufgestanden war.
»Ich finde schon einen Anwalt für Mr Goldberg«, sagte sie, nachdem der Schwindelanfall vorüber war.
Sie dankte Mr Katz für seine Hilfe, dann griff sie nach Mantel und Hut. Es ging ihr alles nicht schnell genug – mit zitternden Händen nestelte sie an den Knöpfen herum und kämpfte gegen die lähmende Kälte an.
Rebekka kam noch mit an die Tür; dort verabschiedeten sich die beiden mit einer geschwisterlichen Umarmung.
Im Mondschein wirkte der Bengal Court altertümlich, unwirtlich und unheimlich. Der Schatten lag wie ein Vorhang über dem Hof. Sally zögerte, ob sie hineingehen sollte oder nicht, doch sie musste. Sie schloss die Eingangstür auf und stieg im Dunkeln die ihr
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