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Der Tiger im Brunnen

Der Tiger im Brunnen

Titel: Der Tiger im Brunnen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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Docks Schlange stehen für Arbeit und auf hundert Arbeitsuchende nur ein Dutzend Stellen kommen, so dass sie sich darum prügeln und die Vorarbeiter lachend dabeistehen und sie auch noch anfeuern. Oder wenn ein altes Ehepaar, dem außer der Zweisamkeit nichts geblieben ist, durch Armut dazu gezwungen wird, sich zu trennen und ins Arbeitshaus zu gehen, so dass dort jeder für sich allein stirbt. Oder wenn Hausbesitzer ihre Mietskasernen nur als Einnahmequelle ansehen und sich weigern, die Kanalisation reparieren zu lassen, so dass Kinder knietief durch Schlamm und Kot waten müssen, um in ihre Wohnung zu kommen … Unterbrechen Sie mich nicht. Halten Sie den Mund und hören Sie mir zu. Das Böse ist am Werk, wenn eine Familie langsam verhungert … Die Familie, von der ich neulich erfahren habe … Fünf Personen, Vater, Mutter und drei Kinder, sind tot aufgefunden worden. Ihre kleine Stube war völlig kahl, weil sie alles ins Leihhaus getragen hatten, jeden Löffel, jedes Bettlaken, jeden Stuhl. Es gab keine Arbeit und sie sind verhungert. Und ich musste keinen einzigen Tag meines Lebens ohne eine Mahlzeit auskommen. Und das alles ist in meiner Stadt geschehen, der Stadt, in der ich lebe. Das ist das Böse. Und wissen Sie, was hinter all dem steckt? Das Krebsübel, das im Verborgenen wuchert und alles zerfrisst? Nicht nur der Zaddik, dieser arme, bedauernswerte Mann im Rollstuhl, sondern auch ich und zehntausend andere. Weil wir Aktien der Gesellschaften besitzen, die Mietskasernen bauen, aber nichts gegen die katastrophalen sanitären Verhältnisse unternehmen. Weil wir am Warenumschlag in den Docks verdienen, der davon lebt, dass Männern Arbeit verweigert wird. Vor allem aber, weil wir nie richtig hingesehen haben. All das Geld, das wir durch kluges Ein- und Verkaufen verdienen – wir wissen nicht, was es eigentlich bedeutet. Ich wusste nicht, was ein Pfund, was ein Shilling wirklich bedeutet. Nun, inzwischen weiß ich es, dank Daniel Goldberg und Miss Robbins von der Sozialmission in Spitalfields und anderen Menschen, die ich kennengelernt habe. Und auch dank Ihnen, Sie armer, unwissender, hilfloser Mann. Ich wusste nicht, welche Folgen bestimmte Handlungen haben können, ich begriff nicht, wie alles miteinander zusammenhängt, bis ich die Narbe in Ihrer Brust gesehen habe. Die Opiumsüchtigen, die Ihretwegen eines langsamen Todes gestorben sind, und mein Vater und all die Juden, die Sie betrogen haben, und ich … Wir sind alle miteinander verflochten. Goldberg hat Recht.« Sally wischte sich die Tränen ab, die ihr jetzt kamen, ohne sich von ihnen aufhalten zu lassen.
    »Und die Kutsche damals nachts in den Docks …«, fuhr sie fort. »Was hatten Sie mit mir vor? Mich umzubringen, unter anderem?«
    Sein Gesicht blieb regungslos.
    »Vielleicht«, sagte er.
    »Dann hätte ich Sie umbringen sollen. Das habe ich ja versucht, nicht wahr?«
    Keine Antwort.
    »Ja, ich habe es versucht. Und schauen Sie, was ich stattdessen angerichtet habe. Sie zu diesem Leben zu verurteilen … Nein, das habe ich nicht gewollt, Ah Ling. Das haben Sie nicht verdient. Aber ich habe es getan. Genauso wie ich am Hungertod jener Familie beteiligt war und an der Verzweiflung jenes Vaters, der sein Kind mit einem Feuerhaken marterte. Ich war, ohne es zu wissen, daran beteiligt. Deswegen bin ich schuldig, ich und alle anderen Aktienbesitzer, Spekulanten und Kapitalisten. Wissen Sie, wo sich das Böse verbirgt? Nicht einfach in Ihnen … Es verbirgt sich hinter der Haltung, Missstände nicht wahrhaben zu wollen, die man einmal gesehen hat. Das Elend sehen, die Augen davor verschließen und sich abwenden. Gut, früher wusste ich das nicht. Aber nun, wo ich es weiß, gibt es keine Entschuldigung mehr. Deshalb werde ich jetzt – «
    Sie hielt inne. Von ihren Gefühlen überwältigt, wurde es ihr eng in der Brust und ihre Stimme versagte. Und durch die Tränen hindurch sah sie Ah Ling – der dasaß und sich langweilte.
    Es bestand kein Zweifel. Er konnte sie einfach nicht verstehen. Und sie merkte, wie recht sie mit ihrer Einschätzung hatte: Er war ein roher, brutaler, beschränkter Mann, dessen Manieren, Anstand und Kennerschaft nichts anderes waren als Parfum, das über Abfall gesprüht wurde. Sie hatte ihm ein Geständnis gemacht, sich ihm geöffnet und anerkannt, welches Leid sie über ihn gebracht hatte. Sie hatte ihm das alles dargebracht – und er war nichts als gelangweilt.
    Aber was hatte sie ihm noch sagen wollen? Deshalb werde

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