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Der Tiger im Brunnen

Der Tiger im Brunnen

Titel: Der Tiger im Brunnen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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sie benutzt, als sie Mr Bedwell, den Seemann, und Mr Selby, den Geschäftspartner meines Vaters, umbrachten. Nicht im Stande zu urteilen?« Sally richtete sich langsam auf und stand, ohne dass sie es recht gewollt hatte, mit einem Mal vor ihm. »Bei Gott, ich bin geboren worden, um einmal Ihr Richter zu sein. Jetzt sollen Sie hören, wie mein Urteil lautet.«
    Leicht wankend, die Haare struppig, der Mantel halb von der Schulter gerutscht, stand sie da und schaute ihm in die Augen. Michelet stand daneben wie eine Leiche mit Totenkandelaber. Ah Ling saß unbeweglich da und starrte mit funkelnden Augen zurück.
    »Sie haben sich wie ein Ungeziefer in meinem Leben eingenistet. Sie wissen alles über mich. Sie wissen von Frederick Garland, meinem Geliebten, und Jim Taylor und Webster Garland, meinen Freunden. Sie wissen alles über meine Tochter, mein Haus, meine Dienstboten, über meine Geschäfte und meine Geschäftspartnerin … Sie wissen über alles Bescheid, was ich gemacht habe. Also wissen Sie auch von Axel Bellmann, dem Mann, der Frederick umbringen ließ. Der Mann, der das Dampfmaschinengewehr gebaut hat. Ich habe gerade vorhin an ihn gedacht – allerdings nur eine Sekunde lang. Ich war damals in seiner Hand, so wie ich jetzt in Ihrer bin, aber Sie können ihm nicht das Wasser reichen, Ah Ling. Er war auf seine Art ein Genie, im Gegensatz zu Ihnen. Er hatte eine Vision, Sie nicht. Er strebte nach etwas, das größer war als er, auch wenn es böse war. Sie hingegen sind nichts weiter als gierig. Ihr Geist ist roh, Ihr Verlangen ist roh, Sie haben keinen Funken Fantasie, Sie kennen keine Inspiration. Eigentlich gibt es nur zwei Dinge, die Sie am Leben halten: Geld zu scheffeln und mich zu hassen. Als ich Sie vorhin gefragt habe, warum Sie die Juden verfolgen, hatten Sie nicht die Kraft oder den Mut zu sagen: Weil ich gierig bin oder weil ich grausam bin. Nein, Sie machten nur eine höhnische Bemerkung. All die Jahre hat sich das nicht geändert. Zum Beispiel der Opiumschmuggel. Dahinter stand nur Ihre Gier. Wie ein kleiner dicker Junge, der nicht aufhören kann, Süßigkeiten in sich hineinzustopfen …«
    Er machte Anstalten, etwas zu erwidern. Doch Sally ging mit wilder Miene einen Schritt auf ihn zu. Michelet wich erschrocken zurück, so dass der Schein der Lampe zu flackern begann. Ah Lings Augen funkelten giftig, doch Sally beeindruckte das nicht. Sie setzte ihm weiter zu: »Noch etwas habe ich gelernt – und dafür sollte ich Ihnen wohl dankbar sein –, nämlich, wie das Böse aussieht. Es hat nicht das Aussehen eines finsteren Mannes im Rollstuhl, es sieht auch nicht chinesisch oder russisch aus. Überhaupt nicht fremdländisch. Oder unheimlich. Nein, das ist nicht das Böse. Sie selbst sind nicht das Böse, dazu sind Sie viel zu exotisch mit Ihrem dressierten Affen und Ihrer Idee, meine Tochter dazu abzurichten, Ihre Wünsche zu erfüllen und Ihnen den fettigen Mund abzuwischen – «
    »Woher wissen Sie das?«, fuhr er sie an.
    »Ich war eines Nachts hier unten und habe mit angehört, wie der Mann hinter Ihnen mit dem Sekretär darum gefeilscht hat, sie abrichten zu dürfen!«
    »Das ist nicht wahr, Monsieur«, rief Michelet.
    »Es ist wahr – und er weiß es, denn er hat mich hinterher im Treppenhaus ertappt. Ich habe alles gehört.«
    Michelet stellte die Lampe auf dem Fußboden ab und stürzte sich wie ein tollwütiger Hund auf sie. Weil Sally ihn aber kommen sah und weil sie in diesem Augenblick vor nichts mehr Angst hatte, wich sie keinen Zentimeter zurück. Mit Händen, Fingernägeln und Zähnen setzte sie sich gegen seine Fäuste zur Wehr. Gesicht, Haare, Arme – sie schonte nichts an ihm. Da löste sich der Verband von seinem Kopf, er wandte sich entsetzt von ihr ab und Sally stieß den Wimmernden zu Boden.
    »Michelet, stell die Lampe auf die Konsole«, befahl Ah Ling mit Verachtung in der Stimme. Sally bückte sich und tat es für ihn. Der Leibdiener hielt sich mit beiden Händen den Kopf und stöhnte – aber dann sah sie den Griff ihres Revolvers in seiner Rocktasche. Wenn er sich daran erinnerte, konnte er sie innerhalb einer Sekunde umbringen. Und sie war noch nicht fertig.
    Sie wandte sich wieder dem Mann im Rollstuhl zu.
    »Ich war dabei, Ihnen zu verdeutlichen, was das Böse ist«, sagte sie. »Jetzt weiß ich es. Das Böse ist am Werk, wenn ein Mann sich betrinkt und dann einen glühenden Feuerhaken auf den Rücken seines Kindes drückt. Oder wenn Schauerleute stundenlang in den

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