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Der Tiger im Brunnen

Der Tiger im Brunnen

Titel: Der Tiger im Brunnen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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arbeitete es. Die Wasser des Blackbourne hatten die Fundamente des Hauses weggespült. Kaum hatten die Retter – Sally konnte sie nicht sehen, glaubte aber den Lakaien Alfred und den Butler auszumachen – die unterste Treppenstufe erreicht, da stürzte die komplette Seite des Kellers mit Getöse in die Fluten. Türstock, Lampen, Treppenstufen, Arme und Köpfe – alles verschwand mit einem einzigen Rutsch im schlammigen, wogenden Wasser.
    Als ein breiter Riss die Wand von einer Seite zur anderen spaltete, fiel auch die flackernde Lampe von der Konsole und Dunkelheit breitete sich aus.
    Von oben fielen Backsteine, Balken und Zementbrocken; der Rahmen des Aufzugschachtes ächzte und bog sich; der Lift selbst bebte, als etwas Großes und Schweres auf das Dach prallte.
    Immer noch fest den Pfosten umklammernd, kniete Sally neben Ah Ling im Dunkeln.
     
    Goldberg sah sie, ehe er die Ecke der Fashion Street erreichte: Eine kleine Rotte von Männern, die aus einem Hof in der Nähe der St.-Botolph-Kirche kamen. Man konnte ihnen ansehen, was sie vorhatten: Aus ihrem ganzen Auftreten sprach Mordlust, wie er sie in aufgewiegelten Menschenmengen in Russland und Deutschland, aber noch nie in London gesehen hatte. Sie waren mit Stöcken bewaffnet und einer schwang einen schweren Gürtel.
    Sie sahen ihn und blieben stehen.
    Sogar auf der anderen Straßenseite und durch den Regen hindurch spürte er ihre Erregung.
    »Da ist einer! Da ist ein Jude!«, rief einer.
    Insgesamt stellten sie vielleicht ein halbes Dutzend. Für einen Augenblick dachte Goldberg schon, er müsse es mit ihnen aufnehmen, halb gelähmt vor Schmerz, wie er war. Doch der Anführer knurrte den Schreihals an und nach einem höhnischen Lachen trollten sich alle.
    Sie gingen in raschem Tempo in dieselbe Richtung wie er. Goldberg atmete tief durch. In seinem linken Arm pochte ein unbändiger Schmerz. Es half nichts, er musste weiter.
    Er zwang sich regelrecht weiterzugehen. Laufen war ausgeschlossen, selbst wenn er nicht schon halb London durchquert hätte. Er wünschte, er hätte etwas mehr von dem schottischen Whisky getrunken.
    Links in die Commercial Street, geradeaus in die North Street, links die Brough Street hinauf … Vorsichtig jetzt. Von hier ging es direkt in die Holywell Street. Goldberg ging bis zur Straßenkreuzung und spähte um die Ecke.
    Nein, sie waren noch nicht da. Er lief zur nächsten Haustür und klopfte laut. Es war gleich, wer hier wohnte, sie waren alle Juden. Dann zur nächsten Tür, zur übernächsten und immer weiter.
    Fenster gingen auf, Köpfe schauten heraus – wütende und verängstigte Gesichter, verschlafene und hellwache, junge, alte.
    »Aufwachen!«, rief ihnen Goldberg zu. Er stand mitten auf der Straße, während rundum der Morgen dämmerte und der Regen endlos weiterfiel. Er schaute hinauf zu den Menschen in den Fenstern. »Aufwachen! Kommt heraus und verteidigt euch. Jeder Mann, der kämpfen kann, soll zu mir kommen! Aufwachen!«
    Und nach und nach erkannten sie ihn im schwachen Dämmerlicht.
    »Das ist Goldberg – «
    »Daniel Goldberg ist da!«
    Und wieder rief er, damit es die ganze Straße hörte: »Aufwachen! Kommt raus und folgt mir! Zur Bäckerei Salomon – mir nach!«
    Er ging weiter, über Wilson’s Place, die Lower Heath Street und Keats Court, durch die schmale Gasse hinter der jüdischen Suppenküche am Ende der Dean Street bis zu den Häusern nahe der Synagoge in New Court. Dann kam der erste Mann aus seinem Haus, ihm folgten zwei weitere, bewaffnet mit Stöcken, die sie unter ihre Mäntel steckten, fröstelnd, während der kalte Regen auf die noch schlafwarmen Gesichter fiel. Bald waren sie ein Dutzend und dann ein Dutzend mehr und dann rief jemand: »Schaut! Da sind sie. Vor der Bäckerei!«
    Und tatsächlich, da kam der Mob gröhlend aus der Brick Lane und gleich darauf flog der erste Stein und die erste Fensterscheibe ging klirrend zu Bruch.
     
    Der Aufzug bebte; das Drahtseil quietschte. Nur das Dach des Lifts schützte sie vor den herabfallenden Mauerbrocken – und nur das Drahtseil verhinderte, dass die Aufzugzelle ins Wasser stürzte.
    Sally konnte nichts mehr tun. Ah Ling lag neben ihr auf dem Rücken, während das Wasser bereits den Rand des Aufzugbodens leckte.

 
Der Tiger im Brunnen
     
     
    Die Luft war regenschwer und silbergrau, gelbdunstig, aschfahl. Irgendwo hoch oben und unvorstellbar weit weg, über Venedig zum Beispiel oder über dem Montblanc, schien die Sonne. Ein wenig von ihrem

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