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Der Tiger im Brunnen

Der Tiger im Brunnen

Titel: Der Tiger im Brunnen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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ich mich nun auf Goldbergs Seite stellen und mit ihm arbeiten … Nichts würde sie tun, sterben würde sie, und zwar bald. Ihr war kalt. In einer Minute würde Ah Ling seinem Leibdiener befehlen sie zu erschießen, und das wäre es dann gewesen. Wenigstens war Harriet in Sicherheit. Wenn Jim zurückkam, wenn Margaret sie ausfindig machte, hatte sie Menschen, die sich um sie kümmern würden. Wenn nicht, dann konnte sie sich kein besseres Zuhause für Harriet vorstellen als bei Familie Katz. Goldberg würde schon dafür sorgen … Oh, sofern er überhaupt noch frei war, sofern man ihn in der Zwischenzeit nicht festgenommen hatte …
    »Ach, übrigens«, sagte Ah Ling. »Sie können es noch nicht wissen. Parrish hat Ihre Tochter gefunden.«
    »Wo – woher wissen Sie – «
    »Winterhalter hat ein paar Männer ertappt, die vor dem Haus herumlungerten. Juden. Sie suchten nach dem Kind, weil es nicht mehr in seinem Versteck war. Als die Polizei sie verhörte, gaben sie an, Parrish habe das Kind an sich genommen.«
    »Nein!«
    »Doch. Die Kleine ist in Parrishs Händen und sehr bald wird sie in meinen sein.«
    »Ich glaube Ihnen nicht – «
    »Dann werde ich es Ihnen beweisen. Das Kind wurde widerrechtlich im Haus eines Mannes namens Katz festgehalten. Glauben Sie mir jetzt? Sie haben alles verloren, Miss Lockhart. Nach all den Jahren stehe ich als Gewinner da.«
    Sally sank zu Boden. Ihre Ohren rauschten. – Nein, es waren nicht ihre Ohren! Ihre Arme und Beine bebten. – Aber nein, nicht sie, der Fußboden und die Wände!
    Und dann geriet plötzlich der Rollstuhl in Bewegung und kam langsam auf sie zu, obgleich Michelet noch immer am Boden lag.
    Ah Lings Gesicht verriet Unruhe. Sally, ebenfalls überrascht, brachte sich gerade noch in Sicherheit, ehe der schwere Rollstuhl gegen die Wand stieß und der Gelähmte nach vorn rutschte.
    »Michelet!«, rief Ah Ling.
    Doch Michelet konnte sich nicht bewegen. Konnte nicht einmal rufen, so bestürzt und sprachlos war er, denn da war kein Boden mehr unter seinen Füßen: Er stand bis zur Hüfte in strudelndem Wasser.
    Es war so rasch gegangen, dass er nur ohnmächtig zusehen konnte. Der Verband hing ihm über der Schulter; das verletzte Auge schimmerte, blutig und entzündet, im schwankenden Lichtschein der Lampe wie das eines Zyklopen. Dann schrie er entsetzt auf und verlor den Halt. Einen Augenblick später wurde er von den Wassermassen fortgerissen.
    Sally hatte sich nicht bewegt. Sie konnte gar nicht. Der Fußboden bekam Risse, die Dielenbretter splitterten. Mauer- und Betonbrocken fielen in die wirbelnde, wogende Flut, die so unvermutet in den Raum eingebrochen war. Sie lag an der Wand neben dem Rollstuhl, ihr Mantel war unter den Rädern festgeklemmt und hinderte sie am Aufstehen.
    Der Boden hatte sich zunächst nach hinten geneigt, der Rollstuhl war in Bewegung gekommen, bis zur Wand gerollt und hatte sie mitgezogen.
    Nun, als sie die Mantelknöpfe am Kragen aufriss, um sich frei zu machen, gab irgendetwas tief im Untergrund nach und das Wasser antwortete mit einem neuen Sturzbach. Der Boden kippte nach vorn – gerade auf die Spalte zu, in der Michelet verschwunden war.
    Und der Rollstuhl bewegte sich rückwärts …
    »Die Bremse!«, keuchte Ah Ling. »Die Bremse!«
    Sally warf sich an den Rollstuhl und versuchte ihn aufzuhalten, während sie gleichzeitig nach der Bremse suchte. Das Gefährt war so schwer und lief so leichtgängig – wo war denn nur die verdammte Bremse? – Hier, endlich.
    Sie ließ sie einrasten und der Rollstuhl kam, wenige Zentimeter vor dem Abgrund, zum Stehen.
    Ah Lings Oberkörper hing immer noch vornüber. Erst nach und nach brachte sie ihn wieder in eine aufrechte Position. Sein Gesicht war dunkelrot, seine Augen quollen hervor, doch sobald er wieder richtig saß, atmete er tief durch und schaute gefasst um sich. Sally, die ebenfalls nach Luft rang, lehnte am Rollstuhl und betrachtete das Schauspiel vor ihren Augen.
    Die gesamte Mitte des Kellers war weggerissen. An ihrer Stelle klaffte nun ein Loch mit schartigen Rändern, das den Blick auf dunkle Wassermassen freigab – ein reißender, schäumender Strom, der von rechts nach links dahinschoss und Schlamm und Schmutz mit sich riss. Das Wasser gab Kälte ab wie ein Ofen Wärme.
    Während Sally sich am Rollstuhl festklammerte, brach ein weiterer Brocken vom gegenüberliegenden Rand des Loches ab und dann noch einer und noch einer, bis kein Weg mehr hinüberführte. Die Tür zur Treppe

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