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Der Tiger im Brunnen

Der Tiger im Brunnen

Titel: Der Tiger im Brunnen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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Schein sickerte durch Schwaden von Rauch, Dampf, Dunst und dichtem Nebel, die sich wie Gardinen aufbauschten, und drang durch die schwerfällig dahintreibenden Wolken, die ihre aufgeblähten Bäuche über Dächer und Schornsteine, über glänzende Dachziegel und überbordende Traufen schleppten.
    Nach der langen Nacht konnte man nun vom einen Ende der Holywell Street zum anderen sehen.
    Hinter Goldberg standen achtzehn Männer und Jungen. Die Männer waren Kleinhändler und Handwerker; zwei oder drei auch Gelehrte; der älteste war Sechsundsechzig, der jüngste dreizehn. Einige kannten Gewalt schon aus früheren Zeiten. Einer hinkte, weil ihm bei einem Pogrom in Russland das Pferd eines Kosaken das Bein zerschmettert hatte; ein anderer hatte eine Narbe unter dem Käppchen, die von einem Säbelhieb rührte. Die Jungen waren Prügeleien auf der Straße oder im düsteren Schulhof gewohnt, doch dies hier war etwas anderes, etwas Schlimmeres. Gift lag in der Luft. Der Aufgeregteste von allen war der Mann, der dazu eigentlich am wenigsten Anlass hatte. Als Kraftathlet im Leopardenfell stemmte er Gewichte und verdiente damit sein Brot in Varietétheatern. Er konnte keiner Fliege etwas zu Leide tun und hatte noch nie in seinem Leben einen Kampf bestehen müssen. Einer der Gelehrten, ein Mann mittleren Alters mit hängenden Schultern, konnte kaum etwas erkennen, weil er ohne Brille auf die Straße gekommen war. Er hielt seinen Stock fest in den zitternden Händen und flüsterte seinem Nebenmann zu: »Geben Sie mir die Richtung an, Mr Mandelstamm – sagen Sie mir, wann ich zuschlagen soll …«
    Goldberg warf einen Blick auf sie. Es war eine kleine, ängstliche, unsichere Schar, aber er war dennoch stolz auf sie. Dann blickte er die Straße hinunter auf den Gegner.
    Waren es vierzig, fünfzig? Schwer zu sagen. Breitschultrige Männer mit harten Fäusten und verwegen aussehende, sehnige Burschen wie die Jungen von der Lambeth-Gang, an deren Fingern hier und da Schlagringe schimmerten.
    Noch standen sie still da und beobachteten sie. Das Geräusch der kurz zuvor eingeschlagenen Fensterscheibe lag noch wie ein falscher Ton in der Luft. Die Stille, das merkte Goldberg, hing unmittelbar mit dem Auftreten seiner armseligen Truppe zusammen: Sie kam so überraschend, dass der Mob einen Augenblick lang verunsichert war. Und für ein oder zwei Sekunden sah Goldberg sich keiner Masse, sondern einzelnen Menschen gegenüber. Er konnte ihre Gesichter erkennen.
    Er musste diesen Augenblick nutzen und auf sie einwirken, ehe die Raserei über sie kam und sie in ein hundertarmiges Ungeheuer ohne Seele verwandelte.
    »Wartet hier«, sagte er zu seinen Männern und ging dann durch die enge Schlucht der Backsteinhäuser, die die Holywell Street flankierten, langsam dem Mob entgegen.
    Ein erstauntes Raunen ging durch die Rotte vor der Bäckerei. Ein paar taten einen Schritt vorwärts, aber sie blieben Menschen, verwandelten sich nicht in das rasende Ungeheuer. Und Menschen sind neugierig: Sie wollten nur besser sehen.
    Da ergriff Goldberg einen Moment lang ein erhebendes Gefühl. Es war eine Art religiöse Freude – heiliger Übermut. Er war durch den Blutverlust geschwächt, der Schmerz pochte in seinem verletzten Arm, und vor ihm stand ein bewaffneter Mob, der bei der ersten falschen Bewegung losschlagen würde. Goldberg überlegte: Wäre ich jetzt lieber irgendwo anders? Würde ich lieber etwas anderes tun als das hier?
    Was bist du doch für ein Glückspilz, sagte er zu sich selbst. Rede um dein Leben, Danny. Erzähl ihnen eine Geschichte.
    »Ich brauche einen Stuhl«, sagte er laut. »Sie, guter Mann, klopfen Sie doch dort drüben an die Tür und bitten Sie die Hausmutter um einen Stuhl. Sie ist gerade reingegangen. Ja, danke schön. Und jetzt bringen Sie ihn mir bitte, nur nicht so schüchtern.«
    Sie wussten nicht, was sie davon halten sollten, doch vor so viel ungebrochenem Selbstbewusstsein geriet ihre Entschlossenheit ins Wanken. Ihr Argwohn und ihr Hass hingen noch wie Elektrizität in der Luft, doch als Goldberg auf den Stuhl stieg, konnte er beobachten, wie ein Junge, der am Rand der Gruppe stand, erst von ihm wegsah und dann an dem Mann neben sich hochschaute, der eine gewisse Ähnlichkeit mit ihm hatte; sein Vater oder Bruder. Und nun wusste er, wie er zu beginnen hatte.
    »Brüder – «, sagte er, »ja, ich schäme mich nicht für euch, ich schäme mich nicht, euch Brüder zu nennen, obwohl ich Jude und ihr Gojim seid. Brüder,

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