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Der Tiger im Brunnen

Der Tiger im Brunnen

Titel: Der Tiger im Brunnen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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Himmel. Und unser Mann fragt sich – war es nicht so, Kumpel? –, wie lange es wohl noch dauern wird, bis auch er in das Schattenreich eingeht und mit ihm Florrie und die drei Kinder. Wie lange es dauern wird, bis sie auseinandergerissen werden und er tief beschämt einen letzten Blick auf seine Familie wirft …
    Genug Kummer, um wahnsinnig zu werden, um mit dem Kopf gegen die Wand zu laufen oder gleich ins Wasser zu gehen. Unser Mann kennt dieses Gefühl. Ihr kennt es auch.« In der Straße war es totenstill. Die Juden waren unauffällig näher gekommen, um mitzuhören, und hinter den Fensterläden der Bäckerei standen der Bäcker und seine Frau zusammen mit ihren Kindern und lauschten ebenfalls. Jeder Mann in der Menge stand still. Goldberg schaute ihnen in die Augen, sog die gespannte Aufmerksamkeit auf, die sich in ihnen spiegelte, und bündelte sie mit Hilfe seiner Geschichte.
    »Und dann sieht er einen Kumpel draußen vor einer Kneipe und der winkt ihn heran. ›Komm mit rüber. Dadrin ist ein Bursche, der Runden ausgibt.‹ Und er folgt seinem Kumpel in die Kneipe, und tatsächlich, da sitzt ein freundlich aussehender Mann am Tisch, akkurat gekleidet, samtige Pfoten, keiner, der in den Docks gearbeitet hat. Man würde ihn für einen Angestellten halten.
    Und er spendiert. ›Auch ein Glas Bier?‹, fragt er leutselig. ›Setz dich, Kumpel, und hier ist Tabak für deine Pfeife.‹
    Und dann passiert etwas Merkwürdiges. Samtpfötchen träufelt Gift. Kein sichtbares, sondern unsichtbares Gift: Lügen. ›Wisst ihr, wer hinter der ganzen Sache steckt?‹, fragt er seine Zuhörer am Tisch. ›Wisst ihr, warum gute Arbeiter wie ihr auf dem Schrotthaufen landen, während andere in Saus und Braus leben? Die Juden sind dran schuld …‹ Dann nimmt er einen Zug aus seiner teuren Zigarette und bläst den Rauch aus, und wer genau hinsieht, der merkt, wie er beobachtet, ob das Gift schon Wirkung zeigt.«
    Alle waren still, alle hörten zu.
    Nach einer kurzen Pause fuhr Goldberg fort: »Nun kennt unser Freund dahinten einige Juden. Er kennt Solly Moskowitz, den Schneider; er kennt Sam Daniels, den Boxer. Er ist sogar stolz darauf, Sam Daniels zu kennen. Schon ein paar Mal hat er ein paar Shilling gewonnen, als er auf ihn gesetzt hat. Einmal hat er ihm sogar ein Bier ausgegeben, und seither kennt ihn Sam Daniels und grüßt ihn, wenn er ihn trifft.
    Aber Solly Moskowitz und Sam Daniels sind nicht reich und mächtig. Sie sind Männer wie er, Männer aus dem East End. Er kann sich nicht erklären, wie sie zu solcher Macht kommen, dass sie sechshundert Schauerleuten täglich die Arbeit verweigern können. Und es ist ihm ein Rätsel, warum der alte Solly Moskowitz so arm ist, wo die Juden doch so mächtig sein sollen.
    Und er denkt: Ist die alte Furzsirene vielleicht Jude? Und die Männer, denen die Docks gehören, und die im West End mit teuren Zigarren, edlen Weinen und schönen Frauen ein Leben in Saus und Braus führen – sind das alles Juden? Die Abgeordneten im Parlament, die Lords, Richter und Kronanwälte – alles Juden? Nein, selbstverständlich nicht. Was Samtpfötchen da erzählt, kann so nicht stimmen, doch unser Freund kann nicht erklären, wo der Fehler liegt.
    Und da kommt noch ein Glas Bier und noch eins und noch ein bisschen mehr Gift: ›Zündet ein paar jüdische Häuser an und zeigt ihnen, wer der Herr in diesem Land ist.‹
    Doch unser Mann dahinten ist kein Herr. Was er in der Nightingale Lane bei den Docks erlebt hat, war Beweis genug. Wer ist der Herr im Lande? Selbst die alte Furzsirene darf sich nicht so nennen. Die wirklichen Herren bekommt man gar nicht zu Gesicht, außer vielleicht, wenn sie in ihren Kutschen vorbeirauschen und einen mit Schlamm bespritzen. Durch Scheibeneinwerfen und Häuseranzünden wird man nicht zum Herrn. Auf so etwas könnte nur ein verzweifelter Mensch kommen.
    Unser Freund ist also immer noch nicht überzeugt. Aber in der Kneipe ist es warm, das nächste Bier wird gerade gezapft und – ›Rückt mal näher heran‹, sagt Samtpfötchen, ›ich will euch was erzählen, was nicht für jedermanns Ohren bestimmt ist.‹«
    Goldberg hielt inne. Sie waren wie gebannt, nun hatte er sie in der Hand. Als er bei Rückt mal näher heran die Stimme gesenkt hatte, waren alle einen Schritt näher gekommen.
    Und er sah, dass ein Polizist aufgetaucht war – zwei – vier – fünf. Aus den Augenwinkeln beobachtete er, wie ein paar Juden den Polizisten eilig etwas erklärten … Ob

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