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Der Tiger im Brunnen

Der Tiger im Brunnen

Titel: Der Tiger im Brunnen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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wisst ihr denn, was euch hierhergeführt hat? Wisst ihr, warum Gott gerade diesen Mann, den Bäcker Harry Salomons, dazu auserkoren hat, dass sein Geschäft ruiniert und seine Familie in Angst und Schrecken versetzt wird? Liegt es daran, dass er kein gutes Brot macht? Nein – das kann nicht sein. Überzeugt euch selbst, Brüder. Steckt mal die Nase in die Luft und riecht, wie herrlich es duftet. Harry Salomons ist ein guter Bäcker. Wenn seine Bäckerei niedergebrannt wird, gibt es nicht mehr gutes Brot in der Welt, sondern weniger.
    Das ist doch merkwürdig, ja rätselhaft. Wir wollen alle mehr Brot, aber wir sind drauf und dran, Harry Salomons’ Bäckerei niederzubrennen, wo er das Zeug doch herstellt.
    Aber ich sehe da einen Mann weiter hinten, einen meiner Brüder, einen von euch, der das Ganze erklären kann. Ich werde seinen Namen nicht nennen, aber ich weiß eine ganze Menge über ihn. Er hat eine Frau namens Florrie, außerdem drei Kinder, die noch leben, und zwei, die im ersten Jahr gestorben sind, die armen Dinger. Er ist ein Schauermann. Neulich ist er, wie üblich, zu den Docks gegangen. Er hatte zwei Tage keine Arbeit mehr. Er ist hungrig, er ist nicht ganz auf dem Damm, und außer ihm stehen noch sechshundert andere Männer in der Nightingale Lane und suchen Arbeit, alle genauso verzweifelt wie er.
    Und den Vorarbeiter dort – kennt ihr den? Sein Bauch ist aufgegangen wie ein Hefeteig im warmen Ofen. Ihr werdet es nicht glauben, aber er fühlte schon die Wehen kommen. Legte sich hin und schrie wie wild: ›Helft mir! Ich komme nieder. Ich kriege ein Baby!‹ Alle kamen angerannt – der Doktor wurde gerufen – sie brachten ihn ins Büro – beugten sich über ihn und wollten sehen, was der kreißende Berg wohl gebären würde – und wisst ihr, was rauskam? Wind. Ein mächtiger, übel riechender Wind. Und mit was für einem Getöse. Man konnte es noch in Gravesend hören – die Leute dachten, es sei eine Schiffssirene.«
    Alle lachten. Ein Gemurmel war zu hören wie der Wechsel von Ebbe und Flut an einem Kieselstrand. Doch viel vernehmlicher noch waren die zischenden Bitten um Ruhe. Die Leute schüttelten ungeduldig die Köpfe. Sie wollten mehr hören. Erzähl ihnen erst einen derben Witz, mach ihnen den Mund wässrig, dann kannst du mit der Erzählung fortfahren und das Publikum auf deine Seite ziehen.
    »Auf jeden Fall stolzierte Fettwanst, die Furzsirene, anderntags mit den Arbeitsscheinen in der Hand in der Nightingale Lane auf und ab. Zwanzig Angebote – sechshundert Arbeitsuchende. Ihr kennt das Schauspiel – gröhlende Männer, die sich gegen die Absperrung drängen und die Hände recken. Gib mir die Arbeit, bitte!
    Dann schnippt er den ersten Schein in die Luft und schaut zu, wie sich die Männer darum balgen – tretende, schreiende, verzweifelte Männer. Einer unter ihnen ergattert den Schein, die anderen lassen ihn durch. Einer von ihnen, in dessen Familie es heute Abend etwas zu essen gibt.
    Dann kommt der nächste Schein. Ein kleines Ding fliegt durch die Luft, wieder Geschrei und Gebalge, ein gebrochener Finger, ein eingerissenes Ohr. Zwanzigmal spielt sich die gleiche Szene ab, zwanzig Schauerleute haben Arbeit für einen Tag und fünf Shilling Lohn am Ende.
    Doch nicht unser Freund. Nicht der Mann in der Menge dort drüben, er weiß, dass ich ihn meine. Keine Arbeit für ihn. Fettwanst, die Furzsirene, hat seine Lieblinge. An Tagen, an denen er keine Schlägerei will, oder wenn sein Boss zuschaut, ruft er die Namen der Leute auf, die mit Sicherheit keinen Ärger machen. Hungrige Männer, verletzte Männer, solche, die es aufgegeben haben zu kämpfen und die nicht protestieren, wenn sie am Ende des Tages einen Shilling weniger Lohn erhalten als abgemacht. Doch unser Mann gehört nicht zu Fettwansts Lieblingen.«
    Nun waren die Leute still.
    Goldberg wusste, dass Menschen sich danach sehnten, dass ihre eigenen Erfahrungen in Worte gefasst wurden. Er erzählte das alles für sie und sie wollten mehr davon.
    »Also hat er keine Arbeit, kein Geld in der Tasche, kein Essen im Schrank, nichts im Magen, nichts für die Kinder. Also steckt er die Hände in die Taschen – ja, ich kann ihn jetzt sehen, ich weiß, wer er ist – und macht sich auf den Heimweg. Unterwegs kommt er am Arbeitshaus vorbei. Auch an sonnigen Tagen liegt der Schatten des Arbeitshauses über der Straße. Da unten in der Old Gravel Lane sehen sie den ganzen Tag keine Sonne. Das Arbeitshaus verstellt ihnen den halben

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