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Der Tiger im Brunnen

Der Tiger im Brunnen

Titel: Der Tiger im Brunnen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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er durch Salomons’ Laden entkommen könnte? Erst einmal musste er das hier zu Ende bringen …
    Alles das dauerte nur eine Sekunde. Zurück zum Publikum, zurück zur Geschichte.
    »Unser Freund rückt seinen Stuhl also ganz an den Tisch heran. Und Samtpfötchen lehnt sich vor, leckt sich die Lippen und erzählt.
    Die Rede ist von Mord. Menschenopfer. Die Juden sollen Christenkinder umbringen und deren Blut in ihr Brot mischen. Dafür gebe es Beweise …
    Das ist zu viel für unseren Freund. Denn wenn das stimmen sollte, wäre es das Abscheulichste, was ein Mensch überhaupt tun kann. Menschen, die so etwas fertigbringen, verdienen, was man ihnen antut. Nun ist sein Gewissen ein wenig beruhigt, nun hat er nichts mehr dagegen, dass man Juden verfolgt, wenn sie solch schreckliche Dinge im Sinn haben. Jetzt versteht er endlich.
    Deswegen ist er also heute hier. Das hat ihn dazu gebracht, an einem regnerischen Morgen in aller Frühe aufzustehen, mit einem Knüppel in der Hand in die Holywell Street zu kommen und auf ein Zeichen hin einen Bäckerladen zu demolieren und die Existenz eines Mannes zu vernichten.
    Denn jeder, der etwas Böses tun will, braucht einen Grund dafür. Keiner würde es tun, wenn er selbst meinte, es sei falsch. Sie denken, dass sie Recht haben, deshalb tun sie es.
    Unser Freund dort drüben – ich kann ihn sehen, er weiß, dass ich es getroffen habe –, er ist auf dem richtigen Weg. Aber er geht in die falsche Richtung.
    Selbstverständlich ist es richtig, gegen Leute vorzugehen, die Kinder opfern. Aber frage dich Folgendes, mein Freund: Wer hat denn deine Kinder geopfert? Wer war denn schuld daran, dass du keine Medizin für deine kleine Tochter kaufen konntest? Wer hat denn die Verabschiedung der Gesetze verhindert, die die Hausbesitzer verpflichten sollten, für intakte Abwasserkanäle zu sorgen? Dann nämlich wäre dein jüngster Sohn nicht an Typhus erkrankt und gestorben.
    Ich sage dir, wer es getan hat. Jeder dieser reichen Männer – die Haus- und Grundbesitzer – die Fabrikherren – die Mitglieder des Parlaments – die Richter – Lord Soundso und Herzog von Wasweißichwo – sie sind diejenigen, die Menschenopfer bringen. Sie sind die eigentlichen Mörder. Du kannst ihre Opfer jeden Tag in der Nightingale Lane und in der Cable Street sehen – «
    Ein Raunen ging durch die Menge. Goldberg wusste, dass er sie überzeugt hatte, aber irgendetwas störte und drängte die Menge auseinander. Die Polizisten –
    »Genug, Schluss jetzt«, kommandierte eine laute Stimme. »Weitergehen, weitergehen. Der Mann dort – Goldberg – wird steckbrieflich gesucht. Goldberg, Sie sind verhaftet – «
    Noch nicht, dachte Goldberg.
    Er sprang vom Stuhl, und noch ehe sich die Menge geteilt hatte, flüchtete er sich in Salomons’ Bäckerei.
    Harry Salomons schob den Riegel vor.
    »Sie sind ein Segen, Mr Goldberg«, sagte er. »Aber da ist ein Mann für Sie, er sagt, er käme von Moishe Lipman – «
    In der kleinen reinlichen Verkaufsstube, in der es nach frisch gebackenem Brot roch, schaute sich Goldberg um und sah Mrs Salomons und zwei, drei, vier Kinder, die ihn alle mit großen Augen anstaunten. Außerdem stand da noch ein hagerer Mann, der nervös seine Mütze knetete. Der Lärm draußen wurde lauter, als die Polizei sich ihren Weg zur Tür bahnte. Moishe Lipmans Bote fasste sich kurz.
    »Moishe Lipman und seine Jungs sind verhaftet worden. Irgendjemand hat sie erkannt. Wie es genau passiert ist, weiß ich nicht. Aber das Haus…« Er griff sich an den Kopf. »Ich weiß gar nicht, wie ich das beschreiben soll, Mr Goldberg – «
    »Was denn?«
    »Das ganze Haus – ist ein einziger Trümmerhaufen – genau das, vor dem wir uns postiert hatten – vor meinen Augen ist es zusammengestürzt … Es ist einfach nicht mehr da, wie wenn drinnen eine Bombe hochgegangen wäre …«
    Goldberg war fassungslos. Er schüttelte den Kopf, um wieder klar denken zu können. Wie konnte Sally nur … Aber egal. Er musste jetzt hier weg. »Schnell«, sagte er. »Helfen Sie mir.«
    »Aber Mr Goldberg – « Es war Mrs Salomons.
    Die ganze Familie drängte sich zu ihm und wollte ihm danken. Er dagegen hätte sie am liebsten weggeschoben und wäre mit letzter Kraft fortgelaufen. Er wollte schnellstens zu Sally, um ihr mitzuteilen, dass Harriet in Sicherheit war, dass …
    Von der Tür kam lautes Pochen.
    »Aufmachen! Der Mann in Ihrem Laden wird von der Polizei gesucht. Machen Sie auf oder wir schlagen die

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