Der Tiger im Brunnen
rollte die Ecken des Teppichs hoch und drehte jeden Bauklotz in ihrer Spielkiste um. Sally beteiligte sich ohne Begeisterung an der Suche, doch bis zum Frühstück hatten sie ihn immer noch nicht gefunden. Schließlich sagte Sally zu Harriet, der Bär habe wohl schon seinen Winterschlaf begonnen. Harriet mochte das Wort »Winterschlaf«, war aber auf Bruin nicht gut zu sprechen, weil er fortgegangen war, ohne ihr etwas zu sagen.
Sally konnte sich keinen Reim auf die Ereignisse vom Vortag machen. Wozu haben sie einem Kind den Teddybären gestohlen? Sie, das hieß Parrish. Hatten die beiden Männer vom Abend zuvor die Absicht, Harriet zu entführen, und waren daran gehindert worden? Aber warum sollten sie das tun, wo doch Parrish einen Prozess angestrengt hatte, der bei erfolgreichem Ausgang seinen Anspruch auf das Kind juristisch besiegeln würde?
Das Ganze ergab keinen Sinn und diese Rätselhaftigkeit war ein Grund mehr zur Besorgnis.
Gleich nach dem Frühstück machte sich Sally auf den Weg zum Glaser in der Church Street und fragte nach, ob das Glasdach repariert werden könnte. Dann ging sie weiter zum Schlosser und bestellte neue Schlösser für alle Türen und Riegel für die Fenster. Anschließend ging sie zur Polizeiwache.
Die Polizei nahm den Fall auf und ein Sergeant versprach, so bald wie möglich mit einem Beamten in Orchard House vorbeizukommen und sich den Schaden anzusehen. Sein zuvorkommendes Verhalten änderte sich, als er begriff, dass Sally, eine ledige Frau, von ihrem eigenen Kind sprach. Er sagte zwar nicht, dass sie sich den Ärger selbst eingehandelt hätte, aber er gab seine Ansicht doch deutlich zu verstehen. Enttäuscht verließ sie die Polizeiwache.
Arbeit wartete auf sie. Eigentlich hatte sie den ganzen Tag bei Harriet bleiben wollen, doch da waren Kunden und Termine und sie konnte nicht alles auf Margaret abwälzen. Außerdem würde der Prozess eine Menge kosten und die Reparatur des Glasdachs und die Ausgaben für Schlösser und Riegel würden auch nicht gerade gering ausfallen. Wenn sie nicht wieder Geld verdiente, wäre es mit dem angenehmen Leben bald vorüber.
So eilte Sally wie an den anderen Tagen in die Stadt mit dem festen Entschluss, das Anstehende so rasch wie möglich zu erledigen und sich dann ein oder zwei Stunden freizunehmen für einen Besuch in Clapham, wo sie, wie Parrish behauptete, die erste Zeit ihrer Ehe mit ihm verbracht haben sollte.
Die Telegraph Road war eine von mehreren Straßen, die sich zum Verwechseln ähnlich sahen. Alle waren von Reihenhäusern gesäumt, die sich kaum von den üblichen Bauten unterschieden. Straßen wie diese schossen überall in den Vorstädten wie Pilze aus dem Boden und schoben sich immer weiter in das Land hinein. Die Leute, die hier wohnten, waren Angestellte, Händler oder Ladenbesitzer. Sally hätte einem Kommissionär eigentlich etwas mehr Stil zugetraut, aber wenn man berücksichtigte, dass Parrish erst am Beginn seiner Laufbahn stand … Zu dieser Stunde schien niemand zu Hause zu sein und sie spielte schon mit dem Gedanken zu läuten, um sich darüber Gewissheit zu verschaffen.
Noch zögerte sie. Andererseits, weshalb war sie sonst hierhergekommen?
Sie trat durch die schmale Pforte, ging die zwei, drei Schritte bis zur Haustür und klingelte. In dem kleinen Flur schellte es laut. Keine Antwort. Erleichtert klingelte sie noch einmal. Sally wollte schon wieder kehrtmachen, da hörte sie Schritte.
Ein Frau in mittleren Jahren mit Schürze und Häubchen öffnete die Tür.
»Ist Mr Parrish zu Hause?«, fragte Sally.
»Nein. Sind Sie vielleicht Mrs Parrish?«
Der Ton, den sie anschlug, war unfreundlich, ebenso ihre Miene.
»Ganz sicher nicht«, sagte Sally. »Wann kommt er denn heim?«
»Das kann ich nicht sagen.«
»Ist er um diese Zeit in seinem Büro?«
»Wahrscheinlich.«
»Darf ich Sie fragen, wie lange Sie schon für ihn arbeiten?«
»Lange genug, um zu wissen, worum es hier geht. Ich werde Mr Parrish berichten, seien Sie unbesorgt.«
Sie machte Anstalten, die Tür wieder zu schließen.
»Nein – warten Sie – wie ist, bitte schön, Ihr Name?«, fragte Sally.
Als Antwort erhielt sie nur einen verächtlichen Blick, dann wurde ihr die Tür vor der Nase zugeschlagen.
Sally seufzte.
Sie ging durch den gepflegten Vorgarten zurück, lief – ohne anzuhalten – zum Nachbarhaus. Dort klopfte sie an. Fast gleichzeitig ging die Tür auf. Sie hatte die leichte Bewegung der Gardinen zuvor nicht
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