Der Tiger im Brunnen
registriert.
»Ja bitte?«, sagte das Hausmädchen.
»Ist die gnädige Frau daheim?«
»Ich schaue nach, Madame. Wen darf ich melden?«
»Mein Name ist Lockhart.«
Weniger als eine halbe Minute später kam eine Frau um die vierzig mit neugierigen Augen an die Tür.
»Entschuldigen Sie die Störung«, begann Sally, »aber ihr Nachbar, Mr Parrish – kennen Sie ihn?«
»Mr Parrish – ja, selbstverständlich – warum? Wer sind Sie denn?«
»Nun, ich versuche ihn zu sprechen. Es geht um eine … Familienangelegenheit.« Sie musste improvisieren, warum hatte sie sich vorher nichts zurechtgelegt?
Sogleich verfinsterte sich das Gesicht der Frau. »Sie sind seine Frau, nicht wahr?«, sagte sie triumphierend. »Ich weiß alles über Sie. Ich finde das eine Schande, wenn Sie meine Meinung wissen wollen. Sie sollten sich schämen. Ihr Gatte ist ein ehrbarer Mann. Aber Sie – über Sie kann ich kein gutes Wort sagen.«
Und zum zweiten Mal innerhalb von fünf Minuten wurde Sally die Tür vor der Nase zugeschlagen. Es fiel ihr schwer, das nicht persönlich zu nehmen. Einfach mit den Achseln zu zucken und weiterzugehen, das konnte sie nicht. Es gab Leute, vielleicht sogar viele, die fest an diese Lüge glaubten und sie für eine verantwortungslose Frau hielten, die eine Familie zerstört hatte.
Ohne nach rechts und links zu schauen, ging sie die Straße entlang und fragte sich, wie lange sie den Glauben an sich selbst noch aufrechterhalten konnte. An einem bestimmten Punkt würde der Druck zu groß werden und dann gelangte sie womöglich selbst zu der Auffassung, dass sie sich die ganze Zeit über getäuscht habe – ja, natürlich sei sie mit ihm verheiratet – wie habe sie das nur leugnen können – sie schäme sich ja so – und was ihr dann noch bliebe, wäre der Kampf um Harriet …
Nein! So weit würde es nicht kommen. Schließlich wusste sie doch, was in ihrem Leben geschehen war, oder?
Wenn da nicht diese Eintragung im Heiratsregister wäre …
Sally war vor einer Kirche angekommen, die in Alter und Stil derjenigen von St. Thomas in Portsmouth glich: Der öde Bau entsprach der öden Gegend und stand hier nur aus dem Grund, weil die Stadtplaner keine bessere Verwendung für das ungünstig geschnittene Grundstück gefunden hatten. Ohne sich bewusst dazu entschlossen zu haben, trat Sally in die Kirche. Sie traf auf drei Frauen, die Blumen arrangierten, und einen älteren, recht pfiffig aussehenden Herrn im dunklen Anzug, der Gesangbücher aufräumte.
Sie ging auf den Herrn zu und fragte ihn leise: »Entschuldigen Sie bitte, wer ist denn der Pfarrer dieser Gemeinde?«
»Wir haben hier nur einen Vikar, keinen Pfarrer, Miss«, gab der Herr als Auskunft. »Mr Harding ist zurzeit unterwegs. Samstag ist er wieder hier. Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein? Ich bin der Küster. Mein Name ist Watkins.«
»Ich suche jemanden, der Mr Parrish kennt«, sagte Sally.
Seine Miene wurde verschlossener. »Meinen Sie vielleicht Mr Arthur Parrish, den Kirchenvorsteher?«
»Ist er der Kirchenvorsteher der Gemeinde? Das wusste ich nicht. Aber so heißt er.«
»Ja. Er ist hier selbstverständlich bekannt. Möchten Sie seine Adresse?«
»Nein, die brauche ich eigentlich nicht …«
Sie musste wohl sehr erschöpft ausgesehen haben, und tatsächlich war ihr ein bisschen schwindelig, denn der Herr fragte: »Möchten Sie sich in der Sakristei ein wenig ausruhen? Ich hole Ihnen ein Glas Wasser.«
Sally folgte ihm. Der dämmrige kleine Raum, in dem die Chorröcke der Ministranten hingen, roch ebenso muffig wie die Sakristei in Portsmouth und brachte wieder den Gedanken auf, dass sie manches vergessen habe – dass die Vergangenheit sich wiederholte wie eine Folge von Fotografien, nur anders.
Mr Watkins kam mit einem Glas Wasser zurück. Er blickte sich draußen noch einmal um und schloss dann die Tür.
»Was wollten Sie denn gerne wissen, Miss?«, fragte er und reichte ihr das Glas Wasser.
»Danke. Das ist nicht so leicht zu erklären. Ich versuche mir ein Bild von Mr Parrish zu machen. Ist er … angesehen hier in der Gemeinde?«
»Ja, das darf man wohl sagen«, sagte Mr Watkins. »Ein pflichtbewusster Kirchenvorsteher und eifriger Kirchgänger. Und ein großzügiger Spender. Spendiert zum alljährlichen Chorfest immer eine Kiste Apfelsinen. Redegewandter Gentleman. Mehr kann ich nicht sagen, Miss.«
»Hat er Familie?«
Er schwieg und schien sie erst zu taxieren, ehe er eine Antwort gab. Sie wartete, ohne ihn zu
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