Der Tiger im Brunnen
drängen.
»Ich habe gehört, dass es eine Mrs Parrish geben soll«, sagte er schließlich.
»Haben Sie sie schon einmal gesehen?«
»Nein. Darf ich fragen, warum Sie sich danach erkundigen? Ich weiß nicht, ob es recht ist, was ich da tue. Ich würde mich wohler fühlen, wenn ich wüsste, weshalb Sie das fragen.«
»Ja, das ist ganz einfach. Mr Parrish behauptet, er sei mit mir verheiratet, und ich weiß, dass er es nicht ist. Ich kenne ihn überhaupt nicht. Seine Nachbarn wollen nicht mit mir reden, und da dachte ich, ich könnte hier in der Kirche etwas über ihn erfahren.«
Der Küster nickte. »Ich verstehe. Nun, das ist keine einfache Lage, in der Sie sich befinden, das kann man wohl sagen. Freilich weiß ich nicht, ob der Vikar Ihnen weiterhelfen kann … Er hat ein sehr gutes Verhältnis zu Mr Parrish. Ja, man kann sagen, der Herr Vikar hat einen Narren an Mr Parrish gefressen. Macht ständig ein Späßchen mit ihm: ›Mr Parrish macht uns närrisch‹, sagt er immer. Die beiden verstehen sich wirklich sehr gut.«
»Dann wird er mir gewiss nicht helfen können«, stellte Sally ernüchtert fest. »Das ist mir jetzt schon klar. Wie lange ist Mr Parrish schon Kirchenvorsteher?«
»Augenblick. Er kam vor zwei Jahren von der Südküste hierher, wenn ich mich recht erinnere, kam er aus – «
»Portsmouth.«
»Richtig. Er ist gleich beim Vikar vorstellig geworden. Wenn er einen Fehler hat, dann ist es nicht Schüchternheit, das darf man wohl sagen. Ich glaube, er hatte sogar ein Empfehlungsschreiben, das hat der Vikar mir berichtet. Sehr mitteilsam, unser Vikar …«
Er schaute auf den schäbigen Schreibtisch in der Ecke und schien dann zu überlegen.
»Wissen Sie was, ich werde jetzt etwas tun, was ich im Grunde nicht tun dürfte«, verkündete er. »Ich tue es nur deshalb, weil ich Mr Parrish nicht leiden kann. Auch das sollte ich eigentlich nicht sagen, schließlich müssen wir als Christen Achtung vor dem Nächsten haben. Egal, ich traue dem Mann einfach nicht über den Weg.«
Der Küster zog einen Schlüsselbund aus der Tasche und schloss den Schreibtisch auf. Er sah ein Bündel ungeordneter Papiere durch und reichte Sally schließlich einen Brief.
»Kraut und Rüben, wohin man blickt«, seufzte er. »Ein netter Mann, der Vikar, großherzig und immer gut gelaunt, aber zu vertrauensselig. Er sollte ein bisschen mehr auf Ordnung achten. Aber es steht mir nicht zu, ihm das zu sagen.«
Als Sally die Unterschrift las, richtete sie sich unwillkürlich auf. Der Brief war von Pfarrer Beech und lautete:
Lieber Mr Harding,
ich habe das Vergnügen, Ihnen Mr Arthur Parrish vorzustellen und zu empfehlen.
Mr Parrish war fünf Jahre lang Mitglied meiner Gemeinde und in dieser Zeit hat er nicht nur durch regelmäßigen Kirchenbesuch und Sakramentenempfang, sondern auch durch die Vorzüge seines Charakters auf sich aufmerksam gemacht.
Wie ich erfahren habe, wird er künftig seinen Wohnsitz in Ihrer Pfarrei haben. Daher möchte ich Ihnen Mr Parrish wärmstem empfehlen. In ihm finden Sie einen frommen Christen und einen Freund, der zu arbeiten versteht.
Mit kollegialen Grüßen
Gervase Davidson Beech
Der Brief datierte vom 14. Juli 1879 – sechs Monate nach dem Eintrag ins Heiratsregister und nachdem der neue Pfarrer die Gemeinde in Portsmouth übernommen hatte. Die Adresse des Absenders war unsauber auf billiges Papier gedruckt: St. Anselm, Taverham Walk, Norwich.
Ihr Herz hüpfte vor Freude.
»Vielen, vielen Dank«, sagte sie. »Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie sehr Sie mir geholfen haben … Ich kenne mich da nicht aus, aber ist es eigentlich üblich, dass Geistliche solche Briefe schreiben?«
»Da ich nur Küster bin«, sagte er, »kenne ich die Gepflogenheiten nicht. Aber wie ich schon sagte, Mr Harding ist ein sehr offener und gesprächiger Mann. Dergleichen habe ich noch nicht erlebt. Er wollte unbedingt, dass ich auch Bescheid weiß, und zeigte mir den Brief. Daraus schließe ich, dass es wohl eher unüblich ist.«
Sally las den Brief noch einmal. Die Schrift wirkte verkrampft und pedantisch, an manchen Stellen war sie seltsam zittrig, als wäre Mr Beech alt und gebrechlich. Das mochte stimmen oder auch nicht, auf jeden Fall hatte sie nun eine Adresse. Das allein war die Reise wert gewesen.
»Nochmals vielen Dank, Mr Watkins«, sagte sie und stand auf. »Dieser Mr Beech ist der Geistliche, der seine Unterschrift in das Heiratsregister gesetzt hat, demzufolge ich angeblich mit Mr
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