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Der Tiger im Brunnen

Der Tiger im Brunnen

Titel: Der Tiger im Brunnen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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an mein Geld?«
    »Auf Ihrem Konto ist kein Geld mehr«, eröffnete er ihr. »Das Konto ist aufgelöst.«
    Sie fühlte, wie ihr Mund sich öffnete. Die Kinnlade wird mir herunterfallen, dachte sie töricht, ehe sie sich wieder fasste.
    »Wie bitte? Was ist mit meinem Geld passiert? Auf dem Konto waren zweihundert Pfund. Wo ist das Geld jetzt?«
    »Ihr – ähem – Ihr Gatte ist heute Morgen gleich nach dem Öffnen hierhergekommen und hat gerichtliche Papiere vorgezeigt, die ihn ermächtigen … Ich war nicht in der Lage, Sie verstehen … Er hatte seinen Anwalt mitgebracht und – «
    »Sie haben ihm doch nicht etwa mein Geld ausgehändigt?«
    »Sein Geld. Nach dem Gesetz fällt das persönliche Vermögen einer Ehefrau in den Besitz ihres Mannes, der darüber verfügen kann, wie es ihm beliebt. Sofern keine andere Regelung durch einen Ehevertrag vereinbart wurde, versteht sich. Und der Anwalt – «
    »Aber ich bin mit diesem Mann nicht verheiratet, bin es nie gewesen! Er ist nicht mein Gatte!«
    Harriet schaute aus erschrockenen, weit geöffneten Augen zu ihr hinauf. Sally strich ihr reflexartig über das Haar.
    »Miss – äh – Miss Lockhart, es bestand kein Grund, an seiner Aussage zu zweifeln. Sein Anwalt konnte alle nötigen Papiere vorlegen. Ich war, wie Sie sich vielleicht vorstellen können, sehr erstaunt, als ich diese – äh – Auskunft erhielt. Aber ich habe zuvor jede Einzelheit überprüft, um sicherzugehen, dass ich das Richtige tue – «
    »Wollen Sie damit sagen, dass Sie schon vorher gewusst haben, dass er mit den Papieren kommen würde? Warum um alles in der Welt haben Sie mich nicht benachrichtigt?«
    »Sie waren nicht da.«
    »Aber mein Geld – « Sally fuhr sich über das Gesicht und ertappte sich dabei, hilflos den Kopf zu schütteln.
    »Juristisch gesprochen, sein Geld. Ich muss Sie darauf hinweisen. Die Bank hat korrekt gehandelt.«
    »Sie haben diesen Mann – diesen Fremden – mit meinem Geld davonlaufen lassen?«
    Das war zu viel für sie. Sally saß da wie vor den Kopf geschlagen.
    »Einen Fremden wohl kaum«, sagte der Geschäftsführer. »Es ist ein wohl bekannter rechtlicher Grundsatz, dass der Ehemann – «
    »Wie lange hat er gebraucht, um das vorzubereiten?«
    »Selbstverständlich würde die Bank das Geld eines Kunden niemals spontan herausgeben. Wir waren schon seit geraumer Zeit informiert. Es mussten nur noch die entsprechenden Papiere vorgelegt werden, damit die Formalitäten erfüllt waren, und mit der gerichtlichen Anordnung vom gestrigen Tag – «
    Sally stand auf. Nach dem ersten Schrecken waren ihr wieder der Kassierer und der Portier eingefallen. Hatte er dem Mann eine Nachricht gegeben? Parrishs Büro lag nur ein oder zwei Straßen entfernt; er konnte in Kürze hier auftauchen. Sie nahm Harriet und drückte sie fest an sich.
    »Sie haben schändlich gehandelt«, sagte sie dem Geschäftsführer ins Gesicht. »Mir fehlen die Worte. Sie lassen zu, dass dieser Mann – dieser Dieb – mein Geld stiehlt – Sie reichen es ihm über den Tresen, ohne mich auch nur im Geringsten zu warnen – Sie erbärmlicher Betrüger, Sie Feigling …«
    Sein verkniffenes Gesicht sah so widerlich aus wie das einer Ratte. Die Wangen waren gerötet und glänzten, doch er lächelte so breit wie zuvor. Sally wandte sich rasch um und verließ das Büro. Der Kassierer stand im Eingang der Schalterhalle, wie wenn er nach jemandem Ausschau hielt. Der Portier war nicht mehr da. Sie hatte also richtig geraten.
    Als sie auf den Ausgang zulief, unternahm der Kassierer einen halbherzigen Versuch, sie daran zu hindern. Sally blieb stehen.
    »Wenn Sie mich auch nur anrühren, werden Sie das Ihr Lebtag bereuen«, warnte sie ihn. »Gehen Sie mir aus dem Weg, sofort.«
    Leute drehten sich um. Sally bemerkte ihre erstaunten Mienen, ihre gereckten Hälse. Sie machte einen Schritt auf den Kassierer zu, er wich zurück. Sally stieß die Tür auf und ging hinaus. Eine Minute später war sie von der anonymen Menge des Strand aufgesogen worden.
     
    Harriet zog an der Hand ihrer Mutter. Sie wollte ihr etwas sagen. Sally beugte sich zu ihr hinab und horchte, verstand aber nicht, was das Kind ihr sagen wollte. Sie hob sie auf, aber immer noch hatte sie ein Rauschen in den Ohren; so küsste sie die Kleine nur flüchtig und ging weiter. Harriet verstummte. Gewöhnlich plauderte Sally und Harriet plapperte, und obwohl es kein wirkliches Gespräch war, unterhielten sie sich doch miteinander. Sally, die

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