Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Tiger im Brunnen

Der Tiger im Brunnen

Titel: Der Tiger im Brunnen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
Vom Netzwerk:
Rosinenbrötchen. Gott sei Dank gab es noch Teesalons, dachte sie. Für ein paar Pennys konnte man hier so lange bleiben, wie man wollte, und außerdem wurde einem zu essen und zu trinken gebracht. Und Zeitungen gab es auch.
    Sie betrachtete die Scharen von Passanten draußen. Ob irgendjemand sie hier erkennen würde? Vielleicht sollte sie doch ins Ausland gehen. Vielleicht sollte sie sich die Haare färben?
    Als Harriet aufgegessen hatte, zahlte Sally die Rechnung und griff sich die Taschen. Harriet kam folgsam mit und nahm alles wie selbstverständlich hin.
    Sie denkt, ich weiß, was ich tue, dachte Sally.
    Wie durch ein Wunder kam gerade, als sie nach draußen traten, eine leere Droschke vorbei. Sally hielt sie an und sagte dem Kutscher, er solle sie nach Bloomsbury fahren. Eine Minute später fuhren sie auf der südlichen Seite des Trafalgar Square vorbei. Harriet schmiegte sich an Sally und hatte Augen für alles: die Kruppe des Pferdes, das vor Schweiß glänzte, die Zügel, die vom Bock des Kutschers herunterhingen und nach rechts ausgeschüttelt wurden, als die Droschke von der Cockspur Street in den Haymarket einbog.
    Warum ihre Wahl gerade auf Bloomsbury gefallen war, hätte Sally nicht sagen können. Sie hatte früher einmal dort gewohnt, als das Fotoatelier noch in der Burton Street stand. Dort war Harriet gezeugt worden, in der Nacht, in der Fred sein Leben verlor. Bloomsbury war ein Stück Heimat für Sally. Sie wunderte sich, dass sie nicht schon früher daran gedacht hatte.
    Sie bezahlte den Kutscher am Russell Square, dann standen sie und Harriet da wie zwei gerade angekommene Reisende.
    »Wohin sollen wir gehn?«, fragte sie.
    »Nach Hause«, gab Harriet prompt zur Antwort.
    »Wir suchen uns jetzt ein Haus«, sagte Sally. »Das wird dann unser Zuhause. Wo sollen wir zuerst schauen? Da lang? Oder auf der anderen Seite? Die Straße hinunter? Du entscheidest.«
    Harriet überlegte; der Platz war ziemlich groß. Sally hob sie hoch, damit sie besser sehen konnte, und tatsächlich zeigte sie auf eine Straße auf der Ostseite.
    »Fein«, sagte Sally, »dort schauen wir uns einmal um. Sei ein braves Kind und bleib bei mir, wenn wir über die Straße gehen.«
    Die Taschen wurden ihr allmählich schwer. Harriet ging folgsam neben ihr her, während sie die ausgewählte Straße hinuntergingen: hohe Backsteinbauten, klassisch schlicht, aber allem Anschein nach teuer. Hier würden sie nichts finden.
    Sally bog in eine schmalere Straße und dann in einen kleinen Hof, der durch eine Pforte vom übrigen Verkehr abgeriegelt war. Der Ort hieß Wellcome Passage.
    »Das sieht nett aus, Hattie«, sagte sie. »Hier wollen wir anklopfen. Welche Tür nehmen wir?«
    Harriet zeigte auf eine und Sally klopfte. Ein Dienstmädchen öffnete und musterte beide neugierig. »Ich bin auf Wohnungssuche«, erklärte Sally. »Wissen Sie, ob jemand hier in der Gegend Zimmer vermietet?«
    »Mrs Parker, Hausnummer fünf, Madame«, sagte das Mädchen. »Aber ich weiß nicht, ob sie was frei hat. Gleich gegenüber.«
    Nummer fünf war ein heruntergekommenes Haus, hoch und schmal wie die übrigen Häuser hier, mit einer lädierten Haustür und einem Türklopfer, der schon seit Jahren nicht mehr poliert worden war. Doch er fühlte sich vom vielen Gebrauch glatt an, das Haus wurde also nicht gemieden. Auf den Fensterbänken waren Blumen.
    Ein anderes Dienstmädchen, älter als das erste, nicht so adrett und weniger neugierig, kam an die Tür.
    »Ja, Madame, ein Zimmer ist noch frei. Ich hole Mrs Parker. Kommen Sie doch rein.«
    Im engen Flur standen ein Schirmständer und ein Fahrrad im Weg. An den Wänden hingen Bilder – dilettantisch gemalte Aquarelle in schiefen Rahmen. Das ganze Haus roch nach gekochtem Kohl.
    Nach ein paar Minuten erschien die Dame des Hauses, eine kleine rundliche Frau mit munteren Augen. Sie kam aus der Küche und wischte sich noch schnell die Hände an der Schürze ab.
    »Guten Morgen«, wünschte ihr Sally. »Ich glaube, Sie haben ein Zimmer zu vermieten. Ich bin auf Wohnungssuche.«
    »Ja … Ja«, sagte Mrs Parker theatralisch, trat zurück und musterte Sally wie für eine Anprobe beim Schneider.
    »O ja!« Ihre Stimme war tief und dramatisch und hatte eine leichte Dialektfärbung.
    »Wir sind uns schon einmal begegnet.«
    »Meinen Sie? Ich glaube nicht – «
    »Auf unserer Seelenwanderung. Als Eingeweihte erkenne ich die Zeichen. Sie sind im Geiste noch jung, meine Liebe, vielleicht merken Sie es deshalb nicht.

Weitere Kostenlose Bücher