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Der Tiger im Brunnen

Der Tiger im Brunnen

Titel: Der Tiger im Brunnen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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Lippen fest aufeinandergepresst und angespannt, war an diesem Morgen nicht zu Gesprächen aufgelegt und so sagte auch Harriet nichts mehr.
    Die Uhr über einem Tabakwarenladen zeigte noch nicht einmal zehn. Sally fragte sich, ob sie nicht irgendwo Rast machen sollte, um einen Kaffee zu trinken, mit Harriet zu plaudern und ein wenig zur Ruhe zu kommen.
    Eine gute Idee. Gleich gegenüber auf der anderen Straßenseite war ein Teesalon. Fünf Minuten später saßen sie an einem Ecktisch; Harriet hatte ein großes Glas Milch vor sich und Sally sah, wie die Kellnerin ihr aus einem silbernen Kännchen den dampfenden Kaffee einschenkte.
    »Könnten Sie mir eine Zeitung bringen?«, fragte sie.
    »Selbstverständlich, Madame.«
    Madame, wie das klang. Sally musste sich daran gewöhnen. Sie war Mrs … oh, Mrs Jones. Es war noch so früh am Tag und sie war schon erschöpft. Und das ganze Geld … Sie zitterte. Was konnte sie tun? Gut, sie hatte noch genug im Portemonnaie, um eine andere Pension zu finden und sich für ein paar Wochen einzumieten. Dann hatte sie Zeit, an Margaret zu schreiben und sie zu bitten, für sie einen Posten Aktien zu verkaufen.
    »Mama?«
    »Ja, mein Liebling?«
    »Ich will Baldwin haben.«
    »Ja, ich weiß. Sobald wir in unserem neuen Haus sind, setze ich mich hin und schreibe an Mrs Molloy.«
    »Was für ein neues Haus?«
    »Nun, das Haus, in dem wir übernachtet haben, hat uns nicht gefallen, deshalb sind wir gegangen – danke!«, sagte sie zur Kellnerin, die ihr die Zeitung brachte. »Wir suchen uns ein anderes, ein gemütlicheres.«
    »Und Sarah-Jane?« Harriet ließ nicht locker.
    »Ja, weißt du … Nicht sofort. Aber bald. Ich verspreche es. Wir werden was Gemütliches finden, bestimmt. Aber jetzt muss Mama in die Zeitung schauen, damit wir wissen, wo wir suchen müssen.«
    »Warum?«
    »Weil … weil man das so macht. Man liest die Wohnungsanzeigen. Aber jetzt lass Mama mal in Ruhe lesen.«
    Harriet ließ es dabei bewenden, war aber weit davon entfernt, zufrieden zu sein. Sie zog ihre Handschuhe aus und fuhr mit dem Fingernagel ihres Zeigefingers das gestickte Muster der Tischdecke nach. Hier roch es gut. Sie konnte sich nicht mehr daran erinnern, dass sie das Haus, in dem sie die Nacht verbracht hatten, nicht mochte. Sie konnte sich an vieles nicht mehr erinnern, wohl aber an ihr eigenes Zimmer mit dem Schaukelpferd und Bruins Höhle, die Onkel Webster gebaut hatte, und dem Puppenhaus. Plötzlich wünschte sie sich sehnlichst das Puppenhaus.
    Dann machte Mama ein Geräusch, als hätte sie einen Frosch im Hals. Ihre Augen waren groß und feucht und ihre Wangen glühten. Harriet beobachtete alles aufmerksam.
    Die Meldung, die Sally gerade gelesen hatte, lautete:
     
    VERMISST
    EHEFRAU NACH GERICHTSURTEIL AUF DER FLUCHT
     
    Im Anschluss an eine richterliche Entscheidung ist gestern eine Ehefrau mit ihrem Kind erneut verschwunden.
    Mr Arthur Parrish, ein Kommissionär aus Clapham, hatte wegen des Sorgerechts für sein Kind einen Prozess gegen seine Ehefrau angestrengt. Mrs Parrish hatte den gemeinsamen Haushalt einige Monate zuvor verlassen.
    Richter Hawke hatte dem Vater gestern das Sorgerecht zugesprochen. Noch am selben Tag stellte sich jedoch heraus, dass Mrs Parrish und ihre zweijährige Tochter Harriet aus dem Haus, in dem sie bisher gewohnt hatten, geflohen waren. Ihr gegenwärtiger Aufenthaltsort ist unbekannt.
    Mrs Parrish ist vierundzwanzig Jahre alt, blond und hat braune Augen. Sie könnte unter dem Namen Lockhart auftreten, den sie angenommen hat, nachdem sie zum ersten Mal den ehelichen Wohnsitz verlassen hatte.
    Die Polizei hat eine Fahndung eingeleitet und einen Haftbefehl wegen Kindesentführung erlassen.
     
    Sally warf die Zeitung beiseite. Sie wischte sich die tränenfeuchten Augen und schaute um sich. Wie viele Leute hatten das schon gelesen? Und was waren das für Gesetze in England, dass man Jagd auf eine Mutter machte, nur weil sie ihr eigenes Kind nicht hergeben wollte?
    Erregt griff sie nach Harriet, setzte sie sich auf den Schoß und drückte sie an sich. Harriet wand sich aus ihrem Griff und schaute ihr ins Gesicht.
    »Mama?«
    »Ja, was gibt’s, Hattie?«
    »Will ein Brötchen. Efantenbrötchen.«
    »Oh – « Sally musste lachen und wischte sich wieder die Augen. »Ein Elefantenbrötchen. So eines, wie wir es einmal dem Elefanten gegeben haben. Gut, aber wie sagt man?«
    »Bitte.«
    »So ist’s recht.«
    Sally rief die Kellnerin herbei und bestellte ein

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