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Der Tiger im Brunnen

Der Tiger im Brunnen

Titel: Der Tiger im Brunnen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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alle drei in der Droschke, Harriet auf Sallys Schoß. Sie verließen den Russell Square und fuhren in Richtung Britisches Museum.
    Cicely berichtete, so gut sie konnte, was in Sallys Abwesenheit geschehen war. Sally nickte nur. Es war klar, was das bedeutete. Sie musste erneut die Adresse wechseln. Wie lange würde Harriet das durchhalten? Und wie lange sie selbst?
    Sie sah blass aus und sehr müde und sprach nur das Nötigste. Das Kind saß auf ihrem Schoß und lehnte sich an sie. Dabei blickte es Cicely die ganze Zeit aus großen dunklen Augen an.
    Die Droschke hielt. Sally stieg aus, hob Harriet vom Sitz und nahm dann Cicely den Korb ab.
    »Der Assyrische Saal, sagtest du? Ich hoffe, sie kommt bald. Das Museum schließt in zwanzig Minuten. Aber – danke, Cicely.«
    Sie schenkte ihr ein kurzes Lächeln und eilte dann durch das Tor. Cicely setzte sich wieder und schob die Luke hinter sich auf.
    »Zurück in die Stadt, bitte«, sagte sie zum Kutscher. »Ecke Cornhill und Gracechurch Street.«
    Als die Droschke weiterfuhr, merkte sie, dass sie zitterte, aber sie wusste nicht, ob vor Bestürzung, Scham oder Kälte. Sie fühlte so etwas wie Scham, ohne allerdings zu wissen, warum; ihr schien es, als hätte sie plötzlich gesehen, dass Miss Lockhart in einem tieferen Sinn erwachsen war, als sie angenommen hatte. Dieses Erwachsensein bedeutete aber, mit Dingen konfrontiert zu werden, die sie nicht einmal benennen konnte, ohne zu erröten. Miss Lockhart schien ihr jetzt weniger wie eine Göttin. Sie sah älter aus, erschöpft und vielleicht sogar gezeichnet. Gar nicht mehr wie ein Vorbild. Wie sie das Kind über die Gosse gehalten hatte … Aber auch viel realer. Stärker. Was man doch entdecken konnte, wenn man einmal hinter die Fassade sah … Jetzt hatte sie vergessen, Miss Lockhart wegen der Höhe des Trinkgeldes zu fragen; nun, in dieser Situation konnte sie sie unmöglich mit einer solchen Frage behelligen. Sie musste eben ein Stück weit erwachsen werden.
     
    Sally ließ Harriet bis zu den Stufen laufen, aber dann hob sie die Kleine auf und trug sie zum Eingang.
    Der Wärter an der Tür sagte: »Wir schließen in einer Viertelstunde, Madame.«
    Sally nickte. »Können Sie mir sagen, wo der Assyrische Saal ist?«
    »Links, Madame. Und dann immer geradeaus.«
    Sie setzte Harriet wieder ab, doch diese protestierte.
    »Hattie, du musst jetzt wieder ein Stück gehen, Liebling. Mamas Arme sind müde – «
    »Will nicht gehen!«
    Sally sah sich um. Der Wärter schaute sie missmutig an, ebenso der Mann hinter dem Tresen gleich neben dem Eingang.
    Mit schmerzenden Armen unter den herablassenden Blicken weißer Marmorstatuen trug sie Harriet durch die Griechische und Römische Galerie; durch den Ägyptischen Saal, vorbei an kolossalen Göttern und Pharaonen, die ihr so fremd erschienen wie nie zuvor; und schließlich in den Assyrischen Saal. Riesige, furchterregende Gesichter mit spatenförmigen Bärten und ein gewaltiger Stier empfingen sie; auf einem Relief marschierten kriegerische Gestalten prahlerisch in langen Reihen nach irgendeinem Brauch, der seit Tausenden von Jahren vergessen war …
    Niemand sonst war im Saal. Sally setzte erst Harriet ab, dann den Korb. Darin war neues Waschzeug, Seife und Handtücher, außerdem eine Tüte mit Ingwerkeksen. Harriet war ganz rot im Gesicht vor Zorn. Sally gab ihr einen Keks und hoffte, dass kein Wärter auftauchen und sie hinauswerfen würde, weil sie die Assyrer mit Krümeln entweiht hatten. Warum gab es hier keine Stühle oder Bänke?
    Harriet lehnte sich gegen die Beine ihrer Mutter, umschlang sie mit einem Arm, während sie in der anderen Hand einen Keks hielt. Sally beugte sich hinab, nahm sie auf den Arm und hielt sie fest, so dass Harriet den Kopf gegen ihre Schulter lehnen konnte. Das kleine Mädchen schloss sogleich die Augen. Ich darf mich nirgends anlehnen, sagte sich Sally. Ich muss gerade stehen. Wenn ich es schaffe, so zu verharren, bis Margaret kommt, dann sind wir gerettet.
    Im schwachen Licht, das durch das staubige Glasdach sickerte, schritt sie langsam auf und ab, vorbei an den steinernen Zeugen alter Grausamkeiten, Darstellungen von Sklavenzügen, Schlachten und Löwenjagden, die sich wie Erinnerungen an einen Albtraum nicht verscheuchen ließen.
    Der Keks fiel dem schlaftrunkenen Kind aus den Fingern. Sally ging mit durchgedrücktem Kreuz in die Knie, nahm den Keks und steckte ihn wieder in die Tüte. Dann ließ sie Harriet eine bequemere Lage

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