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Der Tiger im Brunnen

Der Tiger im Brunnen

Titel: Der Tiger im Brunnen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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einnehmen.
    Mehr zu sich selbst als zu ihrem Kind flüsterte sie: »Schlaf, mein Liebling, wir schaffen es schon. Bald sind wir wieder zu Hause und alles ist gut. Wir können mit Baldwin und Sarah-Jane spielen, und Jim und Onkel Webster sind auch wieder da. Und du hast wieder dein eigenes Bett … Oh, wo bleibt bloß Margaret. Hier wird gleich geschlossen …«
    Sie ging zur Tür und spähte zu der langen Galerie mit den geisterhaften alten Göttern. Eine Dame und ein Herr schritten langsam an den Statuen vorbei und entzifferten die Inschriften; ein junger Mann machte eine Zeichnung; ein Wärter holte seine Uhr hervor. Sonst war niemand zu sehen. Der Wärter steckte seine Uhr wieder ein und sagte etwas zu der Dame und dem Herrn. Beide nickten und lenkten ihre Schritte in Richtung Ausgang. Auch der junge Mann packte seine Zeichenutensilien ein.
    Sally zog sich von der Tür zurück und hoffte, dass man sie übersehen würde. Vielleicht gab es ja irgendwo einen Unterschlupf, selbst wenn sie auf dem Boden schlafen müssten. Doch keine Minute später kam der Wärter und sagte: »Wir schließen, Madame.«
    Der Mut sank ihr nicht, er konnte gar nicht mehr tiefer sinken. Sally nickte nur, hob den Korb auf und ging den Weg zurück, vorbei an Göttern und Pharaonen, Aphroditen und Minerven.
    Dann stand sie draußen, am Fuß der großen Freitreppe, und war den Tränen nahe. An ihrer Schulter hing Harriet. Die Füße taten ihr weh, sie fror und sie hatte Angst. Schweren Herzens ging sie über den Vorplatz auf das Tor zu.
    Eine Droschke fuhr vor und hielt. Margaret stieg aus, drückte dem Kutscher Geld in die Hand, wandte sich um und sah Sally. Sie liefen aufeinander zu.
    »Gott sei Dank, da bist du ja – «
    »Was ist denn passiert?«
    »Hast du – «
    »Lass mich den Korb tragen – «
    Beide sprachen durcheinander, dann trug Margaret den Korb und Harriet war wieder wach, immer noch mit schweren Augenlidern und den Daumen im Mund.
    »Trinken wir erst einmal eine Tasse Tee«, sagte Margaret.
    Sie führte sie in die Duke Street, eine ruhige Straße mit einem Teesalon an der Ecke.
    »Ich verbringe mehr Zeit in Teesalons …«, meinte Sally, wusste dann aber nicht, wie sie den Satz zu Ende bringen sollte. Sie überließ Margaret die Bestellung und setzte sich erschöpft nieder.
    Margaret erklärte, was sie aufgehalten hatte. Eine ernste Angelegenheit. Mit Mr Patten war sie rasch einig geworden, aber da war noch ein Herr gekommen – mit einer gerichtlichen Anordnung.
    »Einer Anordnung? Was für einer Anordnung?«
    »Die Einzelheiten habe ich mir nicht angeschaut. Ich wollte möglichst rasch hierherkommen. Der Hauptpunkt ist der, dass Parrish eine Verfügung beantragt hat, die dir den Zugriff auf dein Geld verweigert. Auch an deine Aktien und alles Sonstige kommst du nicht mehr heran. Er hat bei einer höheren Instanz um die Erlaubnis nachgesucht, selbst über deine Vermögenswerte zu verfügen. Oh, Sally – «
    »Das darf er nicht«, sagte Sally so leise, dass sie ihre eigene Stimme kaum hörte. »Er hat doch schon das ganze Geld von meinem Konto …«
    »Wie? Willst du damit sagen, er hat erst diese Heirat erlogen und nun plündert er dich aus – wie viel hast du verloren?«
    »Zweihundert Pfund … Ich hatte vor, Aktien zu verkaufen, vielleicht die Beteiligung an der kanadischen Eisenbahngesellschaft – nur um etwas Bargeld zu haben, aber … und da ist noch die Geschäftspartnerschaft – aber wenn er das tatsächlich darf, wäre die ebenfalls rechtlich gefährdet – oh, Margaret, ich habe ja solche Angst …«
    Sie sprach bewusst leise, doch Harriet schien gar nicht zuzuhören. Sie trank vorsichtig ihre Milch und achtete nur darauf, nichts zu verschütten. Margaret nahm Sallys Hand und drückte sie.
    »Hör auf, dich verrückt zu machen, und trink deinen Tee«, sagte sie. »Wir überlegen uns später, was zu tun ist. Harriet, möchtest du ein Rosinenbrötchen, wenn ich es dir aufschneide?«
    Sally atmete tief durch, bis ihre Hände aufhörten zu zittern. Dann trank sie ihren Tee.
    »Wenn ich nur wüsste, warum«, sagte sie. »Ich dachte, wenn ich mein Geld hätte, könnte ich untertauchen, mir eine Wohnung mieten und dann aus der Deckung zurückschlagen, ihm auf die Schliche kommen – aber er ist zu schnell, Margaret. Er hat mich gezwungen die neue Wohnung aufzugeben, und dabei waren die Leute dort so nett, und – ich wage nicht nach Twickenham zu gehen, sicherlich überwachen sie das Haus – und jetzt komme

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