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Der Tiger im Brunnen

Der Tiger im Brunnen

Titel: Der Tiger im Brunnen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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es denn eine war, drückte der Betrunkenen einen Stuhl in die Kniekehlen, so dass sie sich hinsetzen musste, und nahm ihren Kopf fest in beide Hände, um die Wunde zu untersuchen. Sally konnte selbst durch das verschmierte Haar der Frau erkennen, dass es auf ihrer Kopfhaut von Läusen wimmelte.
    »Sie braucht ein Bad«, kommentierte die Schwester. »Wir werden das Bett desinfizieren müssen, wenn sie sich in diesem Zustand hineinlegt. Können Sie mithelfen?«
    Sie war eine energische Frau mit rötlichem Gesicht, etwas älter als Sally, mit angenehmer Stimme und von munterer Wesensart. Sie ließ schon das Wasser einlaufen.
    »Ja, natürlich«, sagte Sally.
    Sie half dabei, die betrunkene Mary auszuziehen. Die wehrte sich immer noch, wenngleich schwächer, und ließ sich unvermittelt auf den Boden gleiten, um kurz darauf plötzlich wieder aufzuspringen. Sally erfuhr zwischen den Kämpfen und Flüchen, dass Mary das Geld, mit dem sie sich sinnlos betrunken hatte, durch Prostitution verdient hatte und dass sie außerdem an Syphilis litt. Sally wich entsetzt zurück.
    »Oh, keine Bange«, sagte die Krankenschwester, während sie Marys Kopf einseifte und dann unter laufendem Wasser abspülte. »So können Sie sich nichts einfangen. Du liebe Güte. Wenn sie bloß das hätte … Aber« – und dabei rubbelte sie kräftig Marys Ohren – »sie wird es sowieso nicht mehr lange machen. Nächstes Jahr um diese Zeit schaut sie sich die Radieschen von unten an. Alkoholvergiftung – das ist meine Prognose – obwohl noch ein halbes Dutzend anderer Ursachen in Frage kämen. Sie hat eine böse Verletzung am Kopf, aber ich wette, derjenige, der ihr eins übergebraten hat, wird noch schlimmer aussehen. Ich glaube nicht, dass sie mal bei einer Rauferei ihr Leben lässt …«
    Mary schien vom warmen Wasser und dem kräftigen Schrubben wie benommen und hatte fast das Bewusstsein verloren. Sally half ihr aus der Wanne und trocknete sie, so gut sie konnte, ab, während ihr die Krankenschwester rasch ein Heftpflaster auf der Stirn anbrachte.
    »Werfen Sie ihre Sachen auf einen Haufen«, sagte sie zu Sally. »Wir waschen und desinfizieren sie und dann bekommt sie Mary wieder. Übrigens, wie heißen Sie eigentlich?«
    »Sally Lockhart. Miss Lockhart. Aber ich weiß überhaupt nicht … Was ist das eigentlich für ein Haus? Sind Sie Krankenschwester?«
    »Mein Name ist Turner und ich arbeite hier als Ärztin«, sagte die andere. Sally wurde rot. Sie wusste doch, dass neuerdings auch Frauen für den Arztberuf zugelassen wurden, und nun war gerade sie wie selbstverständlich davon ausgegangen, dass eine Frau, die im medizinischen Bereich arbeitete, nur eine Krankenschwester sein konnte … Doch Frau Dr. Turner schien das nicht krummzunehmen. Während sie Mary das Nachthemd anzog, erklärte sie weiter: »Und das hier ist eine Mission, allerdings keine christliche. Wir sind keine Seelenretter. Im Übrigen wüsste ich auch gar nicht, was eine Seele sein soll. Wir haben alle Hände voll zu tun, die Körper zu retten. Wir sind Sozialisten. Miss Robbins ist die Vorsitzende der Sozialistischen Frauenliga London-Ost. Ich bin hier, um Wunden zu versorgen und Pillen auszuteilen. Was führt Sie her?«
    »Ein Mann namens Katz hat mich hierhergebracht«, sagte Sally, die gerade Marys Arm in einen Ärmel steckte. »Aber ehrlich gesagt, weiß ich nicht, warum. Ich bin ihm wirklich dankbar dafür, aber … Ich war drauf und dran, draußen auf einer Bank zu schlafen. Ich wusste einfach nicht mehr, was ich machen sollte …«
    Sie spürte, dass sie den Tränen nahe war. Frau Dr. Turner sah sie interessiert an, warf einen Blick auf ihre offensichtlich teure Kleidung, verkniff sich aber eine Bemerkung.
    »Bringen wir Mary zu Bett«, sagte sie. »Bestimmt wird sie wie ein Murmeltier schlafen … Also dann, Mary, altes Mädchen, ab in die Falle.«
    Die burschikose Art und der laute, muntere Ton waren genau richtig, dachte Sally. Frau Dr. Turner gehörte zu dem Schlag englischer Frauen, die zu anderen Zeiten auf Fuchsjagden mitgeritten oder den Oberlauf des Sambesi erforscht hätten. Man hätte sich keine andere vorstellen können, die besser mit den Anforderungen des Londoner Ostens zurechtgekommen wäre. Sally half ihr, Mary ins Bett zu bringen, das, zusammen mit zwei bereits belegten Betten, in einem engen Zimmer stand. Die schmutzige Kleidung brachte sie zum Waschen in einen Raum neben der Küche.
    »Legen Sie die Sachen da in die Ecke«, sagte die Ärztin. »Mit

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