Der Tiger im Brunnen
»Mein Name ist Elizabeth Robbins. Das hier ist die Sozialmission Spitalfields. Ich habe Sie erwartet.«
Sally kam aus dem Staunen nicht heraus. Sie setzte sich, Harriet fest im Arm.
»Mich erwartet?«, wiederholte sie wie benommen.
»Mr Katz hat mir Ihre Geschichte erzählt. Ein gewisser Parrish behauptet, sie seien seine Ehefrau und er sei der Vater Ihres Kindes. Ist es so?«
»Ja – aber wer ist Mr Katz? Und woher weiß er das? Miss Robbins, ich verstehe nicht – «
»Sicherlich wird Ihnen Mr Katz alles erklären, wenn er morgen wiederkommt. Jetzt brauchen Sie erst einmal Nachtwäsche für sich und ihre Tochter. Susan bringt Sie gleich in ein Zimmer, wo sie schlafen können. Sicherlich wollen Sie sich auch waschen. Sie können so lange bleiben wie nötig, aber sie müssen hier mithelfen. Wenn ich recht verstanden habe, sind Sie eine Geschäftsfrau.«
»Ich bin Finanzberaterin«, sagte Sally. »Das heißt, ich war es. Ich habe heute feststellen müssen … Was ich sagen will, ist, dass ich kein Geld mehr habe, Miss Robbins, keinen Penny.«
»Sie können arbeiten. Sie sind jung und gesund. Packen Sie mit an. Sie können Betten machen, kochen, Dr. Turner helfen, was eben so anfällt.«
Sally nickte. »Ja. Alles. Vielleicht könnte ich auch in der Buchhaltung helfen …«
»Da wären Sie in zehn Sekunden fertig. Sie sind wohl keine Sozialistin?«
»Nein … Warum?«
»Reine Neugier. Keine Angst, wir wollen Sie nicht bekehren. Ich rufe jetzt Susan. Sie soll Sie nach oben führen.«
Sie klingelte und beugte sich wieder über ihre Papiere, ohne sich weiter um Sally zu kümmern. Als die Frau anklopfte und hereinkam, wies Miss Robbins sie an, Sally das Gästeschlafzimmer zu geben und für Nachtwäsche zu sorgen. Dann verabschiedete sie sie mit einem knappen »Gute Nacht«.
Sally folgte der Frau nach oben in ein enges, kleines Zimmer. Die Frau zündete einen Kerzenstummel an und breitete die Decken auf einem schmalen Bett aus, dem einzigen im Raum.
»Ich schaue nach, ob ich irgendwo noch eine Wärmflasche finden kann, Miss«, sagte sie. »Handtücher sind im Schrank. Das Bad ist nebenan …«
Sie ging hinaus, kam aber nach einer Minute wieder, in der Hand eine irdene Wärmflasche, die zum Anfassen fast zu heiß war, und zwei dünne Baumwollnachthemden, eines für Sally, das andere in Kindergröße. Sally nahm sie dankbar an. Die Frau war schweigsam und schien nicht zum Plaudern bleiben zu wollen. So konzentrierte sich Sally darauf, Harriet auszuziehen. Das Kind war schlaftrunken und ließ sich, ohne viel zu quengeln, waschen und abtrocknen. Sally hatte das Kindernachthemd um die Wärmflasche gewickelt, denn es war nicht gelüftet worden und roch etwas muffig.
»Wir teilen uns heute Nacht wieder das Bett, Liebling«, sagte sie. »So wie gestern in der Villiers Street.«
War das wirklich erst letzte Nacht gewesen? Sally hatte, so schien es ihr, den längsten Tag ihres Lebens hinter sich. Sie deckte Harriet zu, sang ihr ein Gutenachtlied und sah, wie dem Kind die Augen zufielen und der Daumen in den Mund rutschte. Sie strich ihr das Haar aus der Stirn (noch immer hatten sie keine Bürste; morgen wollte Sally eine kaufen, aber womit?) und blieb noch so lange am Bettrand sitzen, bis das Mädchen fest eingeschlafen war.
Dann musste sie gähnen. Als es über sie kam, hatte Sally einen Moment das Gefühl, ihr Kiefer würde sich so weit öffnen, dass sie ihn nie wieder schließen konnte. Als es dann doch vorüber war, saß sie, die Ellbogen auf die Knie gestützt, auf dem Bett und fühlte nichts als eine riesige Müdigkeit.
Sie wäre wohl auf der Stelle eingeschlafen, wenn nicht draußen auf dem Flur plötzlich eine große Unruhe entstanden wäre. Jemand schrie; etwas fiel dröhnend zu Boden … Sie fuhr hoch und schaute nach.
Eine dritte Frau, die Sally noch nie gesehen hatte, bemühte sich um eine Betrunkene, die am Kopf stark blutete, und versuchte offenbar, sie ins Bad zu schleppen. Als sie Sally in der Tür stehen sah, sagte sie: »Kommen Sie – helfen Sie mit! Machen Sie im Bad das Gaslicht an …«
Sie beeilte sich zu tun, was man ihr gesagt hatte. Dann kam sie zurück und fasste mit an. Die Betrunkene redete Unzusammenhängendes und wehrte sich mit Händen und Füßen. Sie roch übel.
»Bringen wir sie hierhinein – die Wunde muss gesäubert werden – na, komm schon, Mary, sei ein braves Mädchen – Widerstand ist zwecklos – so, geschafft, jetzt schauen wir mal.«
Die Krankenschwester, wenn
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