Der Tigermann
Stoß erhoben. Alles im Umkreis von einem halben Meter konnte schon als tot betrachtet werden, denn es gab nichts, das der flinken Bewegung des kleinen Kopfes mit dem aufgeblähten Hals entkommen konnte.
Aber die Kobra stieß nicht zu. Sie behielt ihre Haltung bei und begann sich dann im Rhythmus der Bewegungen von Maras Händen zu wiegen.
Vor und zurück, vor und zurück glitten die Hände und zeichneten Figuren in die Luft. Und in demselben kunstvollen Rhythmus wiegte die Schlange den Kopf.
Aber nicht nur die Schlange vor Mara. Aus dem Augenwinkel sah Eli, daß auch die Schlange, die ihm am nächsten war, denselben Rhythmus aufgenommen hatte. Und obwohl er es nicht sehen konnte, wußte er, daß auch alle anderen Schlangen dem Beispiel ihrer Schwestern folgten. Es mußte das seltsamste Ballett sein, das je ein Mensch gesehen hatte. Der Tanz der tödlichen Kobras.
Sein noch halbgelähmter Verstand fragte nicht, wie das geschehen konnte und weshalb das Mädchen noch lebte. Er konnte nur zusehen und staunen.
Langsam, unendlich langsam zog sich der Schlangenhals zu seinem normalen Umfang zusammen. Langsam, als Maras gleitende Hände näher kamen, senkte sich der Schlangenkopf auf den Boden. Marahatte Macht über die Schlange, über alle Schlangen hier.
Sie lagen friedlich auf der Erde.
»Nein!« schrie Elis Verstand, aber kein Ton drang über seine Lippen.
Denn Mara hatte sich zur Schlange hinabgebeugt und streichelte ihren tödlichen Kopf. Und einen Augenblick später hob sie das Reptil, das sich nicht dagegen wehrte, zu sich empor und küßte dessen kalte Lippen. Dann legte sie die Schlange sanft auf den Tempelboden zurück.
Sofort glitt diese geschmeidig auf die zerbröckelten Mauern zu und verschwand zwischen den Steinen. Die anderen Schlangen folgten ihr.
Elis bisher noch halbgelähmtes Gehirn begann sich wieder zu regen. Das Wunder, das er erlebt hatte, erfüllte ihn mit Demut. Er legte seinen Arm um Mara und spürte, wie sie erneut zitterte. Ein Zittern, das verschwunden war, als die Gefahr am größten gewesen. Sie legte ihren Kopf auf seine Schulter. Tränen strömten über ihr Gesicht. Es war das erstemal, daß Eli sie weinen sah.
Eli konnte nicht umhin, die Privatgemächer des Maharadschas mit dem Rest des Palastes zu vergleichen, in dem überall der fast erdrückende Prunk des Orients vorherrschte. Der Salon des Maharadschas dagegen unterschied sich kaum von dem eines englischen Landhauses. Die Möbel waren entweder aus Europa eingeführt oder eine gute einheimische Nachahmung des viktorianischen Stils. Auf den Tischen standen Vasen mit Blumen, und die Gardinen stammten zweifellos aus einem englischen Einrichtungshaus. In einem offenen Kamin brannte ein niedriges Feuer. Eli und Major Grant unterhielten sich miteinander,während Mara offenbar ihren Gedanken nachhing, als der Maharadscha und die Maharani eintraten.
»Bitte verzeihen Sie unsere Verspätung«, entschuldigte sich der Prinz. »Und bitte setzen Sie sich doch wieder.« Er schickte den Diener weg, der ein Tablett mit Flaschen und Gläsern gebracht hatte.
»Ich kann niemandem im Palast völlig trauen«, seufzte er. »Selbst die Moslems könnten bestochen sein, wenngleich schon ihre Väter und Großväter meinem Vater und Großvater treu dienten. Aber…«
Er sprach nicht weiter, sondern setzte sich mit Andra auf eine Couch seinen Gästen gegenüber. Er nahm ihre Hand in seine, an deren Ringfinger ein riesiger Rubin funkelte – eine Äußerung der Zuneigung, wie sie selten für dieses Land war.
»Bitte bedienen Sie sich.« Er deutete auf das Tablett vor ihnen. Grant streckte die Hand aus, aber Eli hielt ihn zurück.
»Es wäre vielleicht besser, Euer Hoheit, wenn wir zuerst berichteten, mit klarem Kopf.« Eli bezweifelte allerdings nicht, daß Grant sich schon zu Hause auf seine Art gestärkt hatte. »Major Grant wird beginnen, denn er hat bereits seine Skepsis über das Okkulte und andere Phänomene bekundet, die übernatürlich erscheinen.«
Grant preßte die Lippen zusammen. »Ich weiß nicht«, sagte er nach einer Weile. »Ich weiß, was ich mir einbilde gesehen zu haben. Aber jetzt, verdammt
- verzeiht, Euer Hoheiten –, ich kann es einfach nicht mehr glauben. Mein Verstand, meine Augen, müssen mir einen Streich gespielt haben.«
»Überlassen Sie es mir, das zu beurteilen. Berichten Sie jetzt«, bat der Maharadscha.
In kurzen Sätzen schilderte Grand die Geschehnisse, ohne etwas auszulassen.
Eli blickte ihn nicht an,
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