Der Tigermann
Geistes sind fast unbegrenzt. Trotz unserer modernen Zeit mit ihren Dampfschiffen, den Zügen, die sich mit kaum vorstellbarer Geschwindigkeit fortbewegen, den Ballons, welche die höheren Bereiche unserer Atmosphäre erreichen können, verstehen und benutzen wir nur einen winzigen Bruchteil unserer Geisteskräfte.
Denken Sie nur an ein paar Beispiele, wie der Geist eines Menschen seinen Körper beeinflußt. Nehmen wir die eingebildete Schwangerschaft bei unfruchtbaren Frauen, wenn man so sagen kann. Es sind alle Symptome einer normalen Schwangerschaft vorhanden und zwar in einem Ausmaß, daß selbst der erfahrenste Arzt sie jederzeit bestätigt. Aber es gibt kein Kind. Und die Symptome verschwinden, sobald die Einbildung der Frau als solche erkannt und sie entsprechend behandelt wird.
Oder nehmen wir die Wunderheilungen, wo die Symptome unheilbarer Krankheiten zum Verschwinden gebracht werden – physische Symptome wie Geschwülste, Wucherungen, Magengeschwüre, ja sogar Warzen. Ich weise Sie auf die Bibel hin, auf die darin beschriebenen Wunder rein physischer Natur. Und auf die Jogis dieses Landes, die Unerklärliches nicht nur mit ihren eigenen, sondern auch den Körpern anderer bewirken können.
Oder auf einer niedrigeren Ebene, die Schwertschlucker im Zirkus. Es ist wirklich kein Trick dahinter. Sie schlucken das Schwert tatsächlich und ziehen es wieder heraus, ohne eine Verletzung davonzutragen. Ich könnte Ihnen noch eine Unzahl weiterer Beispiele nennen, aber Sie würden sie als zu esoterisch betrachten, und doch habe ich sie gesehen, kann sie bezeugen. Glauben Sie mir, was ich hier aufgeführt habe, sind Tatsachen.«
Major Grant schien durchaus nicht überzeugt, aber er schwieg zumindest.
»Ich bin kein Skeptiker«, sagte der Maharadscha zu Eli. »Auch meine Untertanen sind keine. Gibt es noch irgend etwas, das wir wissen sollten? Wie wird ein Mensch zum Tigermann?«
»Ich glaube, in jedem Menschen steckt die latente Möglichkeit, zum Wertier zu werden«, meinte Eli. »In manchen durch Erbanlagen, jedoch mehr als in anderen. Ich hätte mich vorher näher erkundigen müssen. Ich bin nämlich der Meinung, daß bestimmte Gene für diese Veranlagung verantwortlich sind, und daß die Adepten genau wissen, wer sie besitzt und wie sie ihren Träger zum Wertiger machen können. Gibt es hier frühere Fälle solcher Transformationen?«
Der Maharadscha nickte. »Ja«, sagte er ernst. »Schon bei meinem Vater und dessen Vater gab es diese bestialischen Morde, die Wertigern zugeschrieben wurden. Die Priester heimsten die Lorbeeren für deren Vernichtung ein, aber ich glaube eher, daß vermutlich der natürliche Tod der Lykanthropen dem Spuk ein Ende setzte.«
Elis Augen glänzten. Vielleicht hatte er hier die erste Spur gefunden. Dieses besonders auf eine Verwandlung ansprechende Blut mochte auf eine einzige Familie beschränkt sein, in der die Veranlagung von Generation zu Generation vererbt wurde. Wenn es irgendwelche Unterlagen gab, konnte vielleicht festgestellt werden, daß diese Anlage sich durch die ganze Geschichte Terrahpurs zog.
Die Veranlagung gab es, das stand fest. Und die Priester Kalis wußten, wie sie begünstigt werden konnte.
»Was gedenken Sie also zu unternehmen?« fragte Grant spöttisch.
»Was würden Sie tun, wenn Sie einen echten Tiger erlegen wollen?«
»Ich würde einen Köder auslegen, mich verstecken und auf das Tier warten.«
»Ein Köder.« Eli nickte. »Genau das ist es, was auch ich benutzen werde. Einen lebenden Köder. Einen Menschen.«
Die anderen hielten den Atem an, als er seine Hand auf Maras Arm legte.
Mara, die er zum Lockvogel bestimmt hatte, spazierte langsam in der einbrechenden Dunkelheit über den Pfad. Sie trug einen weißen Sari, der sich gegen die nachtschwarzen Bäume abhob.
»Wie können Sie so sicher sein, daß er ausgerechnet hierher kommt?« fragte Major Grant gereizt: Wieder hatte er sich die doppelläufige Elefantenbüchse unter den Arm geklemmt, während ein Träger ein zweites Gewehr für ihn bereit hielt.
»Es ist unmöglich, ganz sicher zu sein«, erwiderte Eli ruhig. »Aber ich zeigte Ihnen ja auf der Karte, daß die bisherigen Tatorte einen Ring um die Stadt bilden. Der ständige Wechsel innerhalb dieses Kreises müßte ihn heute hierherführen. Es gibt auf keiner Seite dieses Pfades Wege, die näher als drei Kilometer liegen, und auch keine Ortschaften. Wenn er heute nacht überhaupt sein Unwesen treibt, müßte er über diesen Pfad
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