Der Tod auf dem Nil
Sie ist erschossen worden – aus unmittelbarer Nähe. Sehen Sie mal – hier über dem Ohr – da ging die Kugel hinein. Eine sehr kleine Kugel – ich würde sagen Kaliber zweiundzwanzig. Der Schuss war aufgesetzt, sehen Sie hier, da ist es schwarz, die Haut ist versengt.»
Wieder schwappte eine Erinnerungswelle hoch, die Poirot mit Unbehagen erfüllte, als er an die Worte in Assuan dachte.
Bessner fuhr fort: «Sie hat geschlafen; einen Kampf hat es nicht gegeben; der Mörder hat sich im Dunkeln angeschlichen und sie erschossen, so, wie sie dalag.»
«Ah! Non!», rief Poirot aus. Das alles beleidigte seinen Sinn für Psychologie. Jacqueline de Bellefort, mit einer Pistole in der Hand im Dunkeln in eine Kabine schleichend – nein, es «stimmte» nicht, dieses Bild.
Bessner starrte ihn durch seine dicken Brillengläser an. «Aber so ist es passiert, ich sage es Ihnen.»
«Ja, ja. Ich meinte auch nicht Ihre Beschreibung. Ich wollte Ihnen gar nicht widersprechen.»
Bessner grunzte befriedigt.
Poirot kam näher und stellte sich neben ihn. Linnet Doyle lag auf der Seite. Ihre Haltung war natürlich und friedvoll. Aber oberhalb des Ohrs war ein winziges Loch mit einer Kruste aus getrocknetem Blut drum herum.
Poirot schüttelte traurig den Kopf.
Dann fiel sein Blick auf die weiße Wand genau vor ihm und er holte tief Luft. Das saubere Weiß war beschmiert mit einem großen, krakeligen J in irgendeiner bräunlich roten Farbe. Poirot starrte es an, dann beugte er sich über die Tote und hob sehr behutsam ihre rechte Hand hoch. Deren einer Finger hatte bräunlich rote Flecken. «Nom d ’ un nom d ’ un nom!», stieß er hervor.
«Wie? Was ist?» Dr. Bessner sah hoch. «Ach! Das.»
Race sagte: «Ich will verdammt sein. Was sagt Ihnen das, Poirot?»
Poirot wippte kurz auf den Zehenspitzen. «Sie fragen, was mir das sagt? Eh bien, das ist doch ganz einfach, nicht? Madame Doyle liegt im Sterben; sie will aber mitteilen, wer ihr Mörder war, also schreibt sie mit einem Finger, den sie in ihr eigenes Blut getaucht hat, den Anfangsbuchstaben des Namens. O ja, das ist erstaunlich einfach.»
«Ach, aber – »
Dr. Bessner wollte lospoltern, aber eine gebieterische Geste von Race brachte ihn zum Schweigen. «Und das beeindruckt Sie so?», fragte Race langsam.
Poirot drehte sich zu ihm und nickte. «Ja, ja. Es ist, wie ich sagte, von erstaunlicher Einfachheit! Es ist einem so vertraut, nicht wahr? Es ist so oft passiert auf den Seiten von Kriminalromanzen! Es ist inzwischen tatsächlich ein bisschen vieux jeu! Es legt den Verdacht nahe, unser Mörder ist – altmodisch!»
«Ich verstehe…», sagte Race und pfiff durch die Zähne. «Zuerst dachte ich –»
«Dass ich auf jedes melodramatische Klischee hereinfalle?», unterbrach ihn Poirot mit einem flüchtigen Lächeln. «Aber entschuldigen Sie, Dr. Bessner, was wollten Sie gerade sagen?»
«Dass Ihre Theorie absurd ist! Völlig unsinnig! Die arme Frau starb sofort. Sie konnte nicht mehr ihren Finger in ihr Blut tauchen und einen Buchstaben an die Wand malen, Sie sehen selbst, dass sie kaum geblutet hat. Das Ganze ist Unsinn.»
«C ’ est de l ’ enfantillage», bestätigte Poirot.
«Aber dahinter steckte doch eine Absicht», fand Race.
«Das – natürlich», stimmte Poirot zu und bekam ein ernstes Gesicht.
«Wofür steht denn das J?», fragte Race.
Poirots Antwort kam sofort: «J steht für Jacqueline de Bellefort, eine junge Dame, die mir vor nicht einmal einer Woche erklärt hat, sie täte nichts lieber als…» Er setzte eine Pause und zitierte dann sorgfältig:«… ‹meine liebe kleine Pistole ganz dicht an ihren Kopf halten und dann einfach mit meinem Finger –›»
«Gott im Himmel!», rief Dr. Bessner aus.
Einen Augenblick lang herrschte Schweigen. Dann holte Race einmal tief Luft und fragte: «Und genau das ist hier getan worden?»
Bessner nickte. «So ist es, ja. Es war eine sehr kleinkalibrige Pistole – wie ich schon sagte, wahrscheinlich eine Zweiundzwanziger. Die Kugel muss natürlich herausoperiert werden, bevor wir das endgültig sagen können.»
Race nickte verständnisvoll. Dann fragte er: «Was ist mit dem Todeszeitpunkt?»
Bessner strich sich wieder über das Kinn. Seine Finger machten ein schabendes Geräusch. «Ich will mich nicht zu genau festlegen. Es ist jetzt acht Uhr. Ich will mal sagen, in Anbetracht der Temperaturen in der letzten Nacht, sie ist sicher schon sechs Stunden tot und wahrscheinlich nicht länger als
Weitere Kostenlose Bücher