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Der Tod bin ich

Der Tod bin ich

Titel: Der Tod bin ich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Bronski
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gegenüberstand, oder hätte es auch anders kommen können? Ich fühlte mich als falscher Prophet, der nur vorhersagen konnte, was bereits eingetreten war. Die Kosmologie hatte sich vorgenommen, eine Erklärung dafür zu liefern, wie etwas aus dem Nichts hervortreten und wirklich werden konnte. Und nun mussten wir staunend zusehen, wie in einem von uns hergestellten Nichts, einem Vakuum, etwas stattfand, was nach unseren Maßstäben unerklärlich bleiben musste, weil es sich, genau genommen, niemals ereignen konnte. Teilchen, Elektron und Positron oder ein anderes Symmetriepaar, tauchten auf und löschten einander anschließend wieder aus. Jemand sandte Botschaften in das Nichts, aber woher? Die Energie, die diese Teilchen für ihre aufblitzende Existenz benötigten, stand ihnen eigentlich nicht zur Verfügung, sie war nur, wie wir dieses Rätsel umschrieben: für einen verschwindend kurzen Moment geliehen.
    Und wer teilte hier an wen zu? Wer durfte etwas beanspruchenund für wie lange? Schon unser Klassenlehrer hatte als überzeugter Materialist darauf verwiesen, dass ein Nichts nie existieren könne, sondern nur ein Seiendes. Die Beobachtung gab ihm recht, zumindest wurde das Nichts nicht geduldet, es stellte in unserem Universum einen Makel dar, der sofort ausgemerzt wurde, sogar um den Preis der Verletzung sonst gültiger Gesetzmäßigkeiten. In einem geschlossenen System ging keine Energie verloren, sondern wurde nur umgeformt, und deshalb konnte in ihm nie mehr entstehen oder ausgelöscht werden, als bereits vorhanden war: Der Erhaltungssatz war unumstößlich und wurde dennoch in diesem Fall außer Kraft gesetzt. Vor allem war das Auftreten dieser Teilchen im Vakuum durch nichts induziert, was wir hätten vorhersagen können, es erfolgte spontan und entsprang rein dem Zufall.
    In der Welt der festen Körper hantierten wir mit Gesetzen, die der Wissenschaft eine verlässliche Grundlage und dem Menschen für sein In-der-Welt-Sein ein Gerüst gaben, weil er sich die Dinge zu willen machen konnte, wenn er ihre Eigenschaften verstanden hatte. Ein Stein fiel zu Boden, eine Kugel rollte die schiefe Ebene hinab, ein Buch, das ich ins Regal gestellt hatte, lag nicht gleichzeitig auf meinem Schreibtisch. Solche selbstverständlichen Gewissheiten wurden fragwürdig, wenn man in die Welt der Elementarteilchen hinabblickte. Dass mein Arm auf der Stuhllehne aus exakt denselben Grundbausteinen zusammengesetzt war wie das Holz, nämlich aus Atomen mit Protonen, Neutronen und Elektronen, und dass beide dennoch beim unübersichtlichen Gewimmel und ständigen Austausch der Teilchen keine Anstalten machten, sich an ihren Rändern miteinander zu vermischen, dass ich lebte und dachte mit eben dieser Ausstattung, während mich das Holz, braun gemasert, glatt und tot, nur stützte, war schlechthin nicht nachvollziehbar. Mythos und Legende bemühten sich hier um mehr Plausibilität als unsere wissenschaftliche Prosa über die menschliche Existenz. Dem aus Lehmgeformten, riesenhaften Golem musste von Rabbi Löw vorher noch etwas vom höheren Geist eingehaucht werden, bevor er sich aufmachen und durch Prag ziehen konnte. Der Lehm allein war offensichtlich nicht ausreichend.
    Einem Mensch und einem Ding, so wie die Philosophie sie verstand, konnte man nicht austauschbare Besonderheit schon deshalb zusprechen, weil sich beide zu einer bestimmten Zeit immer nur an einem Ort aufhalten konnten. Ein Teilchen jedoch, das wir auf den Weg von A nach B schickten, wanderte nicht nur diesen einen Pfad entlang, auf dem sich ein Tennisball bewegt hätte, den wir geworfen haben, sondern wählte gleichzeitig jede nur mögliche Bahn und führe diese auch quer durch die Milchstraße. Die Spur des Tennisballs bezeichnete nur die wahrscheinlichste Verbindung, und entsprechend den anderen Wahlmöglichkeiten, über die das Teilchen verfügte, sein Ziel zu erreichen, pflanzte es sich als Welle fort und verdickte sich erst mit zahllosen anderen, auf demselben Weg befindlichen am Zielort zu Überlagerungsmustern, wie sie für Wellen typisch waren. Man verwendete das Bild einer Wahrscheinlichkeitswelle. Das Teilchen, das gleichzeitig durch zwei verschiedene Löcher schlüpfen konnte, legte alle Eigenschaften eines Dings ab. Jede Identitätsbestimmung löste sich auf, denn es gab kein materiell gefügtes Nur-Hiersein noch sonst ein Merkmal, mit dem man das Partikelchen von seinen Doppelgängern hätte unterscheiden können.
    Man begegnete in der Quantenphysik

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