Der Tod bin ich
ich erste Geräusche im Institut, bald darauf wurde die Heizung wieder eingeschaltet. Nach einer weiteren Stunde war ich endlich fertig. Ich verschloss meine Papiere im Schreibtisch und holte mir aus der Kantine einen Kaffee und zwei Hörnchen. Anschließend versuchte ich mich in der Toilette ein wenig frisch zu machen, ich sah bleich und ausgezehrt aus. Zurück an meinem Schreibtisch holte ich die Notenschrift hervor. In der Experimentalphysik hatte ich gelernt, dass jeder Schritt mehrfach abgesichert werden musste. Bevor ich meine ursprünglichen Aufzeichnungen vernichtete, wollte ich die Gegenprobe machen und die Notenschrift wiederum in Mathematik übersetzen, um ganz sicherzugehen, dass ich bei der Übertragung keinen Fehler gemacht hatte. Anschließend verglich ich die entstandene Version mit dem Original. Die beiden Fassungen waren stimmig, bis auf eine Viertelnote, die ich zu einem Achtel mit anschließender Pause zu korrigieren hatte.
Mit der Papierschere schnitt ich die beiden mathematischen Versionen in kleine Schnipsel. Außer auf meinen Notenblättern war meine Arbeit nun nirgendwo mehr festgehalten. Der vielen symmetrischen Operationen wegen, die ich abgeleitet hatte, mutete das ausmeinen Formeln entstandene Musikstück wie ein Kanon an. Zu Anfang stand ein Thema, das in der Folge nach den Symmetrieregeln der musikalischen Kunst variiert wurde: geteilt, gespiegelt, dem Tempo und der Tonhöhe nach verschoben und zuletzt sogar im Krebskanon von hinten nach vorne gespielt. Auf dem dritten Blatt gesellten sich auch freie Stimmen hinzu, die das Thema nicht aufgriffen, sondern nur wie Schnörkel die strenge Form lockerten und dabei harmonisch unterstützten. Ich teilte der Notenschrift entsprechend jedem Blatt meines Ursprungsskripts eine Kanonnummerierung von eins bis sieben zu und fügte aus der im Regal stehenden Bibel noch Textstellen aus der Genesis an. Die Tarnung war nun nach Menschenmöglichem perfekt.
Ich aß noch in der Kantine zu Mittag, ging dann nach Hause und legte mich schlafen.
34.
Rothfuss stieg mit einem kleinen Koffer in der Hand in den Wagen, der ihn zum Flughafen Tempelhof bringen sollte. Seltsam verwischt, wie ausradiert flogen die Bäume des Grunewalds, die Läden des Hohenzollerndamms und sogar die Uhr auf der beleuchteten Säule vorbei, die einundzwanzig Uhr dreißig anzeigte. Dabei hätte er gerade diese Daten benötigt, um zu verstehen, dass ihm noch genau zehn Minuten blieben, bis die Propeller der Militärmaschine angeworfen würden, um ihn nach München zu bringen. Aber die Welt hatte sich verflüchtigt, sie war zu matten Farben und unscharfen Formen ausgeblichen. Rothfuss hatte das Gesicht des alten Schamanen vor sich, die braunen Runzeln darin, er hörte das Kichern, mit dem der Alte eine große, von gelblichen Eckzähnen eingerahmte Lücke freilegte, und er sah diesen fedrigen Holzstummel, eine Art Zauberstab, mit dem er unbekannte Symbole in die Luft zeichnete. Rothfuss war damalsin Nebraska stationiert und mit dem Jeep in das Reservat der Pawnees hinausgefahren. Er tankte und ging hinüber in die Arapaho Snack Bar. Umringt von Besuchern tanzte der alte Schamane um einen Stuhl, auf dem der schlaffe Körper eines jungen Mannes in Farmerhosen hing. Rothfuss fühlte sich bemüßigt einzugreifen, um die Ordnung wiederherzustellen. Da rückte der Alte nahe an ihn heran. Der scharfe Geruch eines Präriewolfs, der in einem Brandyfass Unterschlupf gefunden hatte, dünstete aus seinen Poren. Die Augen waren blutunterlaufen, aber sein Blick flackerte. Die Aura dieses Mannes flößte Rothfuss sofort Angst ein. Er habe nur, sagte der Alte, den Geist vom Körper dieses Mannes getrennt. Vorübergehend. Dann sprang er beidbeinig vor den Ohnmächtigen hin und stieß einen Pfiff aus. Der junge Mann erwachte und fuhr hoch. Rothfuss nickte dem Alten zu und machte auf dem Absatz kehrt. Er floh, weil er sich unwohl und vor allem außerstande fühlte, die Gegenwart des Schamanen noch länger zu ertragen.
Das Taxi überquerte den Heidelberger Platz, aber Rothfuss blieb ganz mit seinen inneren Bildern beschäftigt. Auch wenn er es nicht wahrhaben wollte, belehrte ihn die Vision des Alten darüber, dass er sich in einer ähnlich hilflosen Situation befand wie der junge Mann in Farmerhosen. Geist und Körper lagen in Zwietracht, weil sich keiner dem anderen unterwerfen konnte. Dieser Tag war unvergesslich schön, und dennoch war alles in einem kümmerlichen Konjunktiv stecken geblieben.
Seine
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