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Der Tod bin ich

Der Tod bin ich

Titel: Der Tod bin ich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Bronski
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eines Stundenglases nach unten und erklangen in reiner Schönheit, die nur entstehen konnte, weil von oben aus einem unbegrenzten Vorrat nach unten in einen unerschöpflichen Behälter zugeteilt wurde.
    Ganz anders verhielt es sich bei der alles umfassenden Weltformel.Sie wirkte abweisend und kalt, weil sie den Menschen in seiner untergeordneten Rolle vorführt. Er war kein Zentrum, sondern blieb ihr äußerlich und stellte nur eine von unendlich vielen Möglichkeiten dar, die sich rechnerisch ergaben. Ein Weg, aber nicht der Weg. In dem großen Plan, der durch sie umrissen war, entsprangen wir dem Zufall, bildeten wir ein Ereignis, das nur deshalb eintrat, weil alles stattfinden musste, irgendwo, irgendwann, was physikalisch möglich war.
    Ich begann das Stück umzuformen, transponierte es in verschiedene Tonarten, interpretierte es wohltemperiert, wo ich in Naturtönen und der gleichstufigen Skala gedacht hatte. Die Einfachheit und Schönheit der Melodie dieses großen Kanons entzückte mich.
    Natürlich enthielten die Töne, die in mir erweckt wurden, keine verlässliche Bewertung, daher durfte ich genau genommen nichts daraus ableiten, was Sache der Wissenschaft war. Aber gerade das Spekulative reizte. Aus der Darstellung in meinem inneren System durfte man folgern, dass die Schönheit nicht den Dingen, sondern einem menschlichen Maß entsprang, das wir an sie anlegten. Von den unendlich vielen Geschichten, die in ihnen ruhten, erzählten wir die eine, die von makelloser Proportion handelte. So hatte es schon Kepler gehalten. Überzeugt von der Harmonie des Weltalls, hatte er nur nach Konstellationen gesucht, in denen sich zeigte, was er für den Abglanz des einen Schönen hielt. Die Dinge und ihre Elemente verkörperten jedoch vieles, eine Anmutung bewegte uns nur dann, wenn eine menschliche Neigung Korrespondenz dazu schuf. Die Natur beantwortete der Forschung lediglich Fragen, die wir stellten. Wenn wir nach der Teilcheneigenschaft des Elementaren forschten, wies unsere Messung Korpuskel auf, wenn wir ihre Wellenförmigkeit untersuchten, offenbarte sich diese. Weder das eine noch das andere war die Wahrheit, sondern eine Antwort aus der Überfülle der Möglichkeiten. Wir präparierten aus dem Unendlichen nur das uns Zugängliche heraus, alle anderen Bedeutungen blieben stumm.
    Ich setzte meine Geige ab. Draußen sah man noch in der aufkommenden Dunkelheit die Wolken tief über den Häusern hängen. Am Straßenrand parkende Autos waren mit Schnee überzuckert. Das Pflaster schien glitschig und feucht. Kälte, Atmosphäre, Jahreszeit – solche Phänomene konnte man in einzelne Faktoren zerlegen und so simulieren, dass wir unter Glas eine mit Schneezucker überstreuselte kleine Stadt vor uns hatten. Ich wusste das alles, trotzdem griff an solchen Winterabenden erneut ein kaltfingriges Verlassenheitsgefühl nach mir und ich sehnte mich zurück nach Hause in die Geborgenheit meiner Kindheit, wo ich auf dem Schoß meiner Mutter Wärme genoss, die nach Bratäpfeln und Vanille duftete.
    So wie man mit einer kosmologischen Konstante korrigiert und ausgedrückt hatte, dass unser Universum nicht statisch war, sondern sich beständig weiter ausdehnte und damit alle Formeln außer Kraft setzte, die auf seiner Unbeweglichkeit beruhten, war es wohl notwendig, eine menschliche Konstante einzuführen, ein Maß, wie sehr wir die Dinge durch unseren Blickwinkel verzerrten. In meinem Fall ließ sich diese Konstante bezeichnen, sie entsprach dem Umfang jenes Korrekturfehlers, den ein Klavierstimmer auf alle sieben Oktaven gleichmäßig zu verteilen suchte, um statt einer gleichstufigen Tonskala eine wohltemperierte Stimmung zu erzielen, in der jede Tonart auf für alle gleichen Halbtonschritten beruhte. Diese Konstante umfasste bei mir das Intervall eines Achteltons.
    Endlich klingelte das Telefon. Der Anrufer nannte seinen Namen nicht, aber ich erkannte Helmut sofort.
     
37.
    Zwei Tage später verließ ich um halb sechs abends das Büro. Meine Arbeit trug ich sonst in einer Aktentasche bei mir. Diesmal schien es mir zu gefährlich, ich legte die Mappe in einer Schreibtischschubladeab und verschloss sie. Auf dem Gang begegnete mir Frau Rose. Sie grüßte freundlich und lächelte, allerdings bemerkte ich auch den Anflug von Spott, der ihre Mundwinkel umspielte. Ich hatte noch etwas Zeit und trank daher in der Kantine einen heißen Tee, denn ich hatte einen längeren Spaziergang in der Kälte vor mir. Als ich aus dem Gebäude

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