Der Tod bin ich
fortfahren konnte. Und so hörte ich ihn nebenan schnaufen und warten, bis ich endlich die Toilette verlassen würde.
Einmal wurde ich in der Tür zu meinem Zimmer von einem jungen Kerl in Lederjacke abgefangen, der seine Haare vorne zu einer Stirntolle gekämmt hatte. Er stieß mir mit seinen Fingerknöcheln gegendie Brust und schubste mich in den Gang zurück. Über seine Schultern hinweg sah ich, wie zwei Kumpane von ihm meinen Koffer visitierten, den sie auf dem Bett geöffnet hatten.
– Lass ihn rein, rief der eine, der auf der Bettkante saß.
Er klappte den Koffer zu und stand auf.
– Was fällt euch ein? Ich werde das melden!
Der Erste, der Schmiere gestanden hatte, packte mich von hinten. Ihr Wortführer hakte die Daumen in die Taschen seiner Lederjacke und ging grinsend auf mich zu.
– Das lässt du besser bleiben. Ist nicht gut, uns zum Feind zu haben, was?
Er wandte sich nach dem Dritten im Bunde um. Der nickte und lachte.
– Ist ja ohnehin nur Müll, was du da rübergeschleppt hast.
Er deutete mit dem Daumen auf meinen Koffer.
– Alles noch komplett. Aber wenn du mal bei Kasse bist und was brauchst, Zigaretten, Schnaps oder eine Frau, kriegst du alles günstig von uns. Frage einfach nach Olli. Ansonsten – wenn du Ärger machst, polieren wir dir die Fresse.
Er wandte sich seinen Kameraden zu.
– Abmarsch Freunde!
Sie verließen mein Zimmer. Ich sah meinen Koffer durch, tatsächlich fehlte nichts.
Ich war ratlos. Man konnte sich hier wirklich nur ans Fenster setzen und weinen. Das Schlimmste war, dass niemand auf uns Flüchtlinge wartete, um uns freundlich in Empfang zu nehmen. Die einzige vielversprechende Reaktion, die ich bislang erfahren hatte, war die Postkarte meiner Tante Frieda aus Freiburg, auf der sie mir mit teilte, dass ich natürlich bei ihr unterkommen könne.
Dann endlich passierte etwas, was mich aus der Dumpfheit des Lageralltags herausholte: Sergeant Miller, der mein Anerkennungsverfahrenbetreute, teilte mir mit, dass Lieutenant Crookshank vom Citizen Service mich sprechen wolle.
9.
In unserem ersten Treffen hatte ich Sergeant Miller als verständnisvollen Gesprächspartner empfunden. Nun schlug er einen sehr kühlen Ton an. Dazu kam dieser etwas niedrig geratene Stuhl, auf dem ich vor seinem Schreibtisch wie auf einem Sünderbänkchen hockte. Durch seine Lesebrille hindurch sah er auf mich herab. Ich wurde das ungute Gefühl nicht los, dass er über mich zu Gericht saß.
Zu Anfang wurde ich ausführlich befragt. Miller ging nach einem Leitfaden vor und machte sich zu meinen Antworten Notizen. Er wollte austesten, ob ich Kommunist war. Aber politische Fragen hatten mich nie besonders bewegt. Wichtig wurden sie erst, als sie durch die Festnahme meines Vaters in mein persönliches Leben hineinreichten. Für Physiker im Osten wie im Westen galt derselbe Kodex von Regeln und Methoden, denn die Schwerkraft, die den Apfel vom Baum fallen lässt, wirkt universell und kennt keine weltanschaulichen Grenzen. Das einzige Thema, das mir wirklich am Herzen lag, war die Freiheit der Wissenschaft. Alles jenseits davon Angesiedelte war keine Frage der Erkenntnis mehr, sondern eine des Glaubens. In diesem Bereich konnte die Vernunft keine verbindlichen Entscheidungen mehr treffen, daher musste hier jeder seiner inneren Stimme folgen dürfen. Und ein System, das Leute wie meinen Vater einsperrte, weil er seinen Glauben konsequent lebte, wollte ich nicht weiter mittragen. Ich antwortete daher klar und freimütig.
Schließlich klappte Miller die Mappe zu, verstaute seine Brille im Etui, verschränkte die Arme und sah mir schweigend ins Gesicht.
– Offen gesagt: So kann ich Ihre Anerkennung als politischer Flüchtling nicht befürworten.
– Was soll das heißen?
– Dass Sie keine finanzielle Unterstützung bekommen, dürfte das geringste Problem sein. Ausbildungszeugnisse werden jedoch nur bei anerkannten Umsiedlern behördlich überprüft.
Miller behielt mich im Auge.
– Ihre Abschlüsse wären dann wertlos.
Angst kroch in mir hoch. Die Möglichkeit einer solchen Zurückweisung war mir noch nie in den Sinn gekommen.
– Was werfen Sie mir denn vor?
– Dass es Ihnen in der Ostzone nicht mehr gefällt, habe ich verstanden. Aber wo ist der positive Kern? Ihr Bekenntnis zum Westen und seiner Demokratie? Sie wollen unsere Freiheit der Wissenschaft, unsere Freizügigkeit bei religiösen und politischen Überzeugungen. Aber für die Aufrechterhaltung einer toleranten und
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