Der Tod des Teemeisters
Sōji war ein außergewöhnlicher Mann. Ein Kenner chinesischer Antiquitäten, ein Meister in der Kunst der Teezeremonieund ein Mann, der mit unbeugsamem Willen seiner Berufung folgte. In diesen Punkten nimmt Sōji eine herausragende Stellung unter allen Meistern ein.« »Das ist auch meine Ansicht. Und was haltet Ihr von den Gerüchten um seinen Tod?«
»Tja ...« Mehr brachte ich nicht zustande.
»Also, ich für meinen Teil glaube, daß der Verfasser dieser erlesenen Schrift, der es so beklagte, mit der Teezeremonie seinen Lebensunterhalt verdienen zu müssen, noch lebt. Warum hat er Odawara verlassen und sich in Abhängigkeit von Fürst Hideyoshi begeben, wenn nicht, um zu überleben? Ich glaube, Sōji hat das allgemeine Durcheinander beim Fall der Burg Odawara genutzt, um zu entkommen. Flüchten ist seine Stärke. Er hat es viele Male bewiesen. Er flieht, taucht auf, flieht erneut und taucht abermals auf. Vielleicht hatte er es auch diesmal so geplant, doch dann kam es zu den Ereignissen um Meister Rikyū, und es fehlte ihm der Mut wieder aufzutauchen. Vielleicht beläßt er es lieber bei dem Gerücht, man habe ihm Ohren und Nase abgetrennt und er sei an seinen Verletzungen gestorben? Meint Ihr nicht? Vielleicht denkt er gerade in diesem Augenblick darüber nach.«
Es lag mir auf der Zunge, ihn zu fragen, ob er Sōji womöglich seither gesehen habe, aber ich behielt diesen gefährlichen Gedanken für mich. Allerdings legte sein Ton diese Vermutung nahe. Schließlich wechselte er das Thema und befragte mich zu den Begriffen »Kuden« – mündliche Überlieferung – und »Mitsuden« – geheime Überlieferung – in Sōjis Abhandlung. Auch für mich waren sie schwer verständlich, dennoch teilte ich ihm meine Überlegungen dazu mit.
»Die mündliche Weitergabe – Kuden – dient Inhalten, diesich nicht niederschreiben lassen und die man nur mündlich zu erklären vermag. Eine geheime Unterweisung – Mitsuden – habe ich selbst von meinem Meister empfangen. Niemand weiß davon, nur der Schüler selbst hat sie gehört. Diese Dinge sind nur für ihn bestimmt und daher geheim. Auch Meister Rikyū gebrauchte hin und wieder diese beiden Begriffe.«
»Ich verstehe«, sagte Herr Kōsetsusai. »So ähnlich habe ich mir das gedacht, aber ich wollte mich vergewissern. Diese beiden Worte existieren ja nicht nur in der Welt des Tees, sondern auch in der alltäglichen Sprache.
Aber da ist noch etwas. Er verwendet die Worte ›karg und kalt‹, mit denen auch Jōō das Ziel der Teezeremonie beschrieb. Ich verstehe nicht ganz, was damit gemeint ist. Meint Ihr, man könnte sie dahingehend deuten, daß man sich nicht berauschen, sondern wachen Sinnes bleiben soll?«
»Das ist eine sehr schwierige Frage, die meine Fähigkeiten übersteigt. Ich habe beim Abschreiben selbst darüber nachgedacht und mich nach dem Ziel gefragt, das Jōō, der Meister meines Meisters, erreichen wollte. Einen wachen Geist haben, sich nicht betäuben! Sicher haben Sie recht! Darauf achtete mein Meister in seinem letzten Jahr besonders: einen wachen Geist zu haben.«
»Nein, das ist nur meine Deutung. Ich weiß nicht, ob sie zutrifft oder nicht. Einen wachen Geist besaßen erlauchte Teemeister wie Jōō und Rikyū allemal. Erinnert Ihr Euch an den Abschnitt über die Lehrzeit in der Teezeremonie – ich glaube, er geht auf Meister Rikyū zurück? Am Anfang fordert er den absoluten Gehorsam des Schülers, anschließend muß dieser sich für einige Zeit von seinem Meister trennen, und schließlich eine andereRichtung einschlagen. Das sei notwendig, andernfalls könne er keinen eigenen Stil ausbilden. Dann erst kehrt der Schüler wieder zu den Lehren seines Meisters zurück. Bei jeder noch so kleinen Verrichtung verhält er sich wie sein Meister, selbst wenn er nur Wasser von einem Gefäß ins andere füllt, und lebt wieder genau das gleiche Leben. Es ist wie bei einem Samurai in der Schlacht, der sich ganz dem Willen des Taikō unterwirft. Auch er muß sich für einige Zeit von seinem Fürsten entfernen, sonst kann er nichts ausrichten. Danach kehrt er unter den Befehl seines Fürsten zurück. Aber das ist sehr schwierig. Alle, die sich vom Taikō entfernten, kamen um. Als einziger überlebt hat Shōgun Ieyasu.«
»Ihr denkt an den wachen Geist, mit dem Meister Rikyū die Teezeremonie lehrte, aber was die Kunst des alltäglichen Lebens angeht ...«
»Genau das wollte ich Euch fragen, Bruder Honkaku. Aus welchem Grund hat Meister Rikyū
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