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Der Tod fährt Riesenrad - Kneifl, E: Tod fährt Riesenrad

Der Tod fährt Riesenrad - Kneifl, E: Tod fährt Riesenrad

Titel: Der Tod fährt Riesenrad - Kneifl, E: Tod fährt Riesenrad Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edith Kneifl
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beschimpft, weil sie nicht so schlank war wie sie selbst.
    „Das darf ja nicht wahr sein“, murmelte Gustav, als er einen Mann in Galauniform an der Seite der beiden Frauen erblickte. Offensichtlich hatten auch die anderen Gaffer den Erzherzog Ludwig Viktor erkannt. „Lutzi Wutzi“, rief jemand aus den hinteren Reihen. Diesen Spitznamen hatten dem jüngsten Bruder des Kaisers seine homosexuellen Neigungen eingebracht. Angeblich trug der Erzherzog gerne Frauenkleider und ließ sich sogar darin fotografieren. Ludwig Viktor war auch wegen seiner scharfen Zunge und seiner intriganten Art beim Wiener Adel nicht allzu beliebt. Die Feste, die er in seinem Palais am Schwarzenbergplatz veranstaltete, waren Stadtgespräch. Es galt als offenes Geheimnis, dass er zu diesen Festen lieber Männer als Frauen einlud. Allerdings sagte man dem nicht sehr attraktiven Erzherzog ein langjähriges Verhältnis mit der Tänzerin Claudia Couqui nach.
    Plötzlich ertönte ein Schrei. Ein zweiter und dritter noch lauterer Schrei folgten. Die blaublütigen Herrschaften, denen Gabor Steiner den Vortritt gelassen hatte, vergaßen auf ihre vornehme Haltung und verließen fluchtartig den Eingangsbereich. Ein sehr junger und sehr blasser kleiner Prinz, der keine zwölf Jahre alt war, fiel in Ohnmacht. Prinzessin Elisabeth Marie, die neben ihm stand, fächelte ihm rasch mit einem Taschentuch Luft zu. Der Kardinal-Erzbischof war kreidebleich im Gesicht, drohte ebenfalls jeden Moment umzukippen.
    Gustav hatte einen ausgezeichneten Blick auf das Geschehen. Während er sich noch über das Entsetzen der feinen Gesellschaft wunderte, erhaschte er selbst einen Blick in das Innere der Gondel.
    Auf einem schmalen Bänkchen saß ein Kind. Seine Füße reichten nicht bis zum Boden. Es lehnte mit der Schulter an der Wand der Kabine und schien zu schlafen. Bestürzt drängte sich Gustav durch die Absperrung. Als er nur mehr ein paar Meter entfernt war, sah er den nassen Fleck, der sich vor dem Kind auf dem Boden der Gondel ausbreitete. Auch sein Höschen hatte dunkle Flecken. Das Kind hat sich angemacht vor Angst, dachte Gustav.
    Doch dann hätte auch er am liebsten laut geschrien. Die leblose kleine Gestalt hatte graues Haar und ein altes Gesicht, außerdem hing ihm die Zunge aus dem Mund. Um seinen kurzen Hals war ein blau-weiß getupftes Seidentüchlein geschlungen, ähnlich den Tüchern, die die Fiaker normalerweise trugen. Gustav kam nicht nur das Tüchlein bekannt vor. „Napoleon“, flüsterte er bestürzt.
    Als er eine Hand auf seiner Schulter spürte, drehte er sich hastig um.
    „Verschwinde lieber! Wenn ich hier fertig bin, komm ich zu dir und wir gehen auf ein Bier“, sagte sein Freund Rudi mit ernster Miene.
    Mittlerweile hatten einige Polizisten die Gondel gestürmt. Gustav sah seinem Freund nach, der heftig gestikulierend ebenfalls zur Gondel eilte. Er verstand nicht, was Rudi seinen Kollegen zurief. Ein Tumult war ausgebrochen. Die Leute kreischten und drängelten und stießen sich gegenseitig die Ellenbögen in die Mägen. Verzweifelt versuchten die hochherrschaftlichen Damen und Herren ihre Prunkkarossen mit den goldgeränderten Rädern zu erreichen. Die aufgebrachte Menschenmenge versperrte ihnen den Weg. Diejenigen, die hinten standen, wussten noch nicht, was passiert war. Sie jubelten nach wie vor. Vereinzelt hörte man empörte Rufe: „Warum bewegt sich das Ding nicht?“ „Funktioniert es nicht?“
    Dutzende Uniformierte errichteten in Windeseile eine Art Menschenkorridor, damit die Angehörigen des Hochadels und die Honoratioren der Kirche zu ihren Equipagen gelangen konnten. Die Prinzessin eilte, Hand in Hand mit ihrer Mutter, knapp an Gustav vorbei.
    Nicht zum ersten Mal dachte Gustav, wie einfach es in Österreich wäre, ein Attentat auf ein Mitglied des Herrscherhauses zu verüben. Nicht, dass er selbst terroristische Neigungen gehabt hätte, aber er dachte an all die Diskussionen mit den marxistisch oder anarchistisch angehauchten Kommilitonen an der London School of Economics. Die Habsburger waren sich ihrer Macht und ihrer Unverwundbarkeit zu sicher, dabei hätte ihnen wenigstens der Selbstmord des Thronfolgers zu denken geben können. Aber der alte Kaiser und seine konservativen, engstirnigen Berater standen Reformen und Veränderungen äußerst misstrauisch gegenüber. Überzeugt, dass sie ewig an der Macht bleiben würden, erstickten sie das ganze Reich in Bürokratie und Bespitzelung. Sie waren schlicht und einfach

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