Der Tod heilt alle Wunden: Kriminalroman (German Edition)
wollte.
Und sie hätte einen Verbündeten gehabt, einen tatkräftigen jungen Mann, der sich nach allem, was Charley wusste, vor allem durch Kaltblütigkeit auszeichnete. Auch wenn wohl Esthers Wissen um die Auseinandersetzungen ihrer Tante mit den Tierschützern den Ausschlag gegeben haben musste, statt des Schweins sie in den Grillkorb zu klemmen …
Sie probierte das alles gleich an George aus, der so gebannt zuhörte wie früher, wenn sie Gutenachtgeschichten erfunden hatte, in denen Leute vom Ort vorkamen. Doch statt ihn mit ihrem Hang für Gruselabenteuer einzuschläfern, hatte sie oft genug das Gegenteil bewirkt.
»Ja, das ist toll«, sagte er. »Du kannst das noch genauso gut wie früher.«
»Wie früher? Nein, George, das ist keine Geschichte, das ist eine Hypothese. Es könnte wirklich so passiert sein!«
Seine Miene änderte sich.
»Ich hab gedacht, das hättest du jetzt erfunden, so wie das mit dem Pfarrer und den Vampiren oder das über Miss Hardy in der Schule und der vergifteten Milch. Das war meine Lieblingsgeschichte …«
»Das war was anderes. Das waren nur alberne Geschichten. Das hier ist die Wirklichkeit.«
»Aber was du über Emil gesagt hast … er ist doch so ein netter Kerl. Ich mag ihn wirklich. Nein, ich glaube, da täuschst du dich. Nicht Emil. Das passt nicht zu ihm.«
Sie betrachtete ihn, liebevoll und konsterniert zugleich, und sagte: »Woher willst du das wissen? Du hast ihn in Davos nur ein paar Mal getroffen, oder? Und seitdem hast du ihn einmal gesehen …«
»Zweimal«, sagte er.
»Zweimal?«
»Ja. Du erinnerst dich, ich hab ihm meine Nummer gegeben, als ich ihm zufällig an der Tankstelle begegnet bin, und ihm gesagt, er soll mich anrufen, wenn er in der Gegend ist? Na ja, und Freitagnachmittag hat er angerufen, er war auf dem Weg nach Hause und wollte in der Nacht noch eine Fähre erwischen, also hat er gefragt, ob ich Lust hätte, mit ihm davor noch schnell was trinken zu gehen. Also haben wir uns im Nag’s Head getroffen.«
Was hatte das zu bedeuten? Charley versuchte ihre Gedanken zu ordnen, logische Schlussfolgerungen auf der einen Seite, phantasievolle Einbildung auf der anderen. Das war nicht leicht. Einer ihrer Dozenten hatte einmal trocken bemerkt: »Der Anfang jeder Analyse ist die Selbstanalyse. In Ihrem Fall, Miss Heywood, endet es damit vielleicht auch schon.«
»Worüber habt ihr euch unterhalten?«, fragte sie.
»Wir haben viel über dich geredet.« George grinste.
»Über mich? Aber ich kenne ihn doch nur vom Sehen. Es war ja an ihn kein Rankommen, solange dieser giftige Efeu von Ess um ihn geschlungen war!«
»Na, jedenfalls scheinst du großen Eindruck gemacht zu haben. Er wollte alles über dich wissen.«
Charley wollte das nicht in den Kopf. Sie war sich sicher, dass Emil sie noch nicht einmal wahrgenommen hatte!
Dann aber erinnerte sie sich plötzlich. Am Freitag war sie in Denham Park gewesen und hatte aus reiner Boshaftigkeit Esther darauf hingewiesen, dass sie vergangenen Dezember sie und Em in der Bengel-Bar gesehen hatte. Plötzlich überschlug sich ihre kreative Einbildungskraft. An Ess’ Stelle hätte sie das alles natürlich bei erstbester Gelegenheit an Emil weitergegeben. Er, der sich an sein kürzliches Zusammentreffen mit George erinnerte, witterte Gefahr. Er kramte Georges Telefonnummer heraus, rief an und vereinbarte ein Treffen. Charley kannte ihren Bruder. Nach dem Geplauder würde der Schweizer jedes Detail wissen, was George ihr erzählt und wie sie darauf reagiert hatte. Em war daraufhin wahrscheinlich beruhigt, dass sie, Charley, nicht gleich zu Lady D. laufen und ihr erzählen würde, Em sei im Lande. Trotzdem, schlug er möglicherweise Esther vor, sei es vielleicht angeraten, auf Schönwetter zu machen, was ihren unerwarteten Freundlichkeitsanfall beim Grillfest erklären könnte!
Nichts davon passte in das Bild der unglücklich Liebenden, die einen perfiden Plan zur Ermordung von Lady Denham ausheckten. Aber das spielte keine Rolle. Charley kam die ganze Sache sowieso sehr improvisiert vor. Vielleicht war Emil aus irgendeinem Grund zur Sandytown Hall gekommen, weil er Esther sehen wollte … vielleicht hatte Daph sie dabei überrascht … vielleicht …
»Ach, hätte ich beinahe vergessen, für dich ist ein Brief gekommen. Mum sagt, sieht wie Liams Handschrift aus«, sagte George grinsend.
Ihre Mutter hatte natürlich recht, dachte sich Charley, als sie den Umschlag in Empfang nahm. Wahrscheinlich war sie
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