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Der Tod heilt alle Wunden: Kriminalroman (German Edition)

Der Tod heilt alle Wunden: Kriminalroman (German Edition)

Titel: Der Tod heilt alle Wunden: Kriminalroman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reginald Hill
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eher proteischer Natur. Den Kern seines Wesens bekam sie deswegen noch lange nicht zu fassen.
    Eine Zeitlang konzentrierte sie sich darauf, ihren Bruder davon zu überzeugen, dass ihr Tränenausbruch ein natürliches weibliches Phänomen war ohne jede psychologische Signifikanz. Das Problem war nur, er hatte sie bislang kaum jemals weinen sehen. Ihr Stoizismus war legendär, und wenn Schmerz oder Enttäuschung George den Tränen nahegebracht hatte, hatte er immer nur die mahnenden Worte zu hören bekommen: »Nimm dir an Charley ein Beispiel – glaubst du, die würde deswegen flennen?« Seine jetzige Bestürzung war rührend und irritierend zugleich.
    Charley wollte keinesfalls, dass ein negativer Bericht nach Willingden gelangte. Sie mochte eine unabhängige erwachsene Frau sein, sollte aber der Rammschädel spitzkriegen, dass sein kleines Mädchen seines Schutzes bedurfte, dann würde ihn nichts davon abhalten, in Sandytown einzufallen – so wie der Stompy in jüngeren Jahren, wenn er sich vorgenommen hatte, einem pintgroßen Gedrängehalb ein wenig Respekt einzubleuen.
    Zugute kam ihr, dass sie, da sie altersmäßig George am nächsten stand, häufig als sein Schutzengel, als seine Mentorin, Unterhalterin und Mitverschwörerin fungiert hatte. Er war es gewohnt, sich ihr unterzuordnen; das war ihm so sehr in Fleisch und Blut übergegangen, dass er sich schnell beruhigen ließ und ihre Tränen für nichts weiter als so eine Frauensache hielt, die wie dunkle Wolken kurz am Horizont des Mannes auf-, aber ebenso schnell wieder abziehen konnte, wenn man ihr keine weitere Beachtung schenkte.
    George war ein simpler Geist im besten Sinn des Wortes. Er war nicht dumm, gehörte zur oberen Hälfte in der Schule und bewies von klein auf praktisches Verständnis für die Landwirtschaft und deren Ökonomie. Seine Einstellung zum Leben aber war geprägt von sonnigem Optimismus. Er sah alles in Schwarz und Weiß; er mochte jeden, den er kennenlernte, bis sich herausstellte, dass man den anderen nicht mögen konnte, was er mit einem Schulterzucken abtat, um darauf in der Überzeugung weiterzuziehen, die Welt und ihre Bewohner seien im Großen und Ganzen unverdorben. Die Mädchen liebten ihn, und er liebte sie, bislang aber hatte sich nichts Festes ergeben. Er erklärte, er möchte jemanden wie seine Schwester Charley, aber von der gab es nur eine.
    Auf dem College, fern von zu Hause, hatten Charleys Erkundungen in die Tiefen und Untiefen der menschlichen Seele bei ihr eine Zeitlang schreckliche Besorgnis über inzestuöse Liebe geweckt, doch wenn sie in den Ferien nach Hause kam und sein offenes, ehrliches Gesicht und sein breites Grinsen sah, waren solche Ängste mit einem Schlag verflogen. Und als sie mitbekam, wie sehr er den Skiurlaub in Davos genossen hatte – wie ein Kind in einem Süßigkeitenladen –, und als sie verzückte Berichte ihrer glücklichen Freundinnen über deren Begegnungen hörte, wurden auch die letzten Zweifel zerstreut.
    Erinnerungen an ihren Skiausflug wurden nun aber wieder wachgerufen, als sie ihm ausführlich von den Ereignissen der vergangenen zwei Tage berichtete. Der Tod bedeutete George nicht viel, solange es nicht jemanden betraf, den er persönlich kannte, und als sie Lady D.s Ende beschrieb, reagierte er darauf wie auf einen Horror-Schocker, ließ es an ehrlichem menschlichen Mitgefühl aber eher mangeln.
    Dann sagte er, mit der Fröhlichkeit desjenigen, dessen persönlicher Kompass immer in die günstigste Richtung wies: »Na, wenigstens müssen jetzt Ess und Em nicht mehr ihr Versteckspiel abziehen.«
    »Was?«
    »Als ich dir von Emil erzählt habe, hast du gesagt, wahrscheinlich will er niemandem begegnen, den er kennt, weil er und Ess die Sache nicht an die große Glocke hängen wollen, aus Angst vor der Tante. Aber wenn sie jetzt tot ist, müssen sie doch keine Angst mehr haben, oder?«
    »Nein. Da hast du recht. Das müssen sie nicht mehr …«
    Ihre Gedanken rasten. Warum hatte sie nicht schon vorher daran gedacht? Solange sie nicht wusste, was im Testament stand, hatte sie keine Ahnung, in welchem Ausmaß Esther vom Mord profitieren würde. Doch trotz der intuitiven Abneigung, die sie Esther gegenüber hegte, traute sie ihr – nur des Geldes wegen – keinen kaltblütigen Mord zu. Andererseits musste ihr das Versteckspiel, wie George es bezeichnet hatte, ziemlich gestunken haben, nur weil die herrische, vulgäre Frau, ein Parvenu par excellence, ihren Freund nicht gutheißen

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