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Der Tod ist mein Beruf

Der Tod ist mein Beruf

Titel: Der Tod ist mein Beruf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Merle
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"
    Und dein. .."
    Er wollte sagen, "dein Alter", aber er besann sich noch rechtzeitig. "Und dein Vater?"
    Ich sagte mit Nachdruck: "Er hat nichts gesagt."
    Nach einem Weilchen hob ich die Augen und sagte, ohne zu stocken: "
    Hans, ich bitte dich um Verzeihung wegen deines Beines."
    Er sah betreten aus. "Das ist weiter nichts!"
    sagte er hastig. "Das war der Schnee."
    Ich erwiderte: "Wirst du immer hinken?"
    "O nein", sagte er lachend, "nur. .."
    Er suchte nach dem richtigen Wort. "Nur vorübergehend. Verstehst du? Nur vorübergehend."
    Er wiederholte das Wort ganz entzückt. "Das heißt", fügte er hinzu, "es wird nicht so bleiben."
    Bevor wir durch das Schultor gingen, drehte er sich zu mir um, lächelte und streckte mir die Hand hin. Ich blickte auf seine Hand und fühlte, wie ich erstarrte. Mit Anstrengung sagte ich: "Ich will dir die Hand geben, aber nachher werde ich nicht mehr mit dir reden."
    "Aber Mensch!"
    rief er bestürzt aus. "Bist du immer noch böse?"
    "Nein, ich bin dir nicht böse."
    Ich setzte hinzu: "Ich bin niemandem böse."
    Ich hob langsam, mechanisch den Arm und drückte ihm die Hand. Ich zog sie sofort wieder zurück. Werner sah mich schweigend, wie versteinert an. "Du bist komisch, Rudolf."
    Er sah mich noch einen Augenblick an, dann drehte er mir den Rücken zu und ging in die Schule hinein. Ich ließ ihn etwas voraus- gehen und trat dann meinerseits ein. Ich dachte den ganzen Tag und die ganze folgende Woche über diese Unterhaltung nach. Und schließlich entdeckte ich mit Erstaunen, daß, abgesehen von meinen persönlichen Gefühlen für Pater Thaler, sich nichts geändert hatte. Ich hatte den Glauben verloren, und er war für immer verloren.

15. Mai 1914

    Vater starb, das Leben bei uns ging unverändert seinen Gang, ich ging weiter jeden Morgen in die Messe, Mutter führte das Geschäft weiter, und unsere wirtschaftliche Lage besserte sich. Mutter haßte und verachtete die jüdischen Schneider ebenso wie Vater, aber sie fand, daß dies kein Grund sei, es abzulehnen, ihnen Stoffe zu verkaufen. Mutter erhöhte auch gewisse Preise, die so lächerlich niedrig angesetzt waren, daß man sich wirklich fragen konnte, ob Vater, wie Onkel Pranz behauptete, nur darauf aus gewesen sei, seinen eigenen Interessen zu schaden. Etwa acht Tage nach Vaters Tod empfand ich beim Betreten der Kirche lebhaften Ärger. Unser Platz war besetzt. Ich setzte mich zwei Reihen dahinter, die Messe begann, ich folgte ihr in meinem Meßbuch Zeile um Zeile, als ich plötzlich abgelenkt wurde; ich hob den Kopf und schaute zum Gewölbe hinauf. Ich hatte den Eindruck, daß auf einmal die Kirche sich ins Ungemessene ausdehnte. Die Stühle, die Statuen, die Säulen wichen mit rasender Geschwindigkeit in den Raum zurück. Plötzlich, genau wie eine Schachtel, deren Wände herunterklappen, fielen die Mauern um. Ich sah nur noch eine Mondwüste, unbewohnt und grenzenlos. Angst schnürte mir die Kehle zusammen, ich fing an zu zittern. Eine fürchterliche Drohung lag in der Luft, alles war in einer düsteren Erwartung erstarrt, als ob die Welt im Begriff sei, sich selbst zu vernichten, und mich im Leeren allein lassen wollte. Ein Glöckchen erklang, ich kniete nieder und senkte den Kopf. Unter meiner linken Hand fühlte ich das Holz des Betpultes, ein Gefühl von Wärme und Festigkeit durchdrang meine Hand, alles wurde wieder normal, es war vorüber. In den folgenden Wochen wiederholte sich dieser Anfall. Ich merkte, daß er stets eintrat, wenn ich von meinen Gewohnheiten abging. Von diesem Augenblick an wagte ich keine einzige Bewegung mehr zu machen, ohne sicher zu sein, daß sie zu meinen üblichen gehörte. Wenn zufällig eine meiner Bewegungen mir von der "Regel"
    abzuweichen schien, würgte es mich in der Kehle, ich schloß die Augen und wagte die Gegenstände nicht mehr anzublicken, aus Furcht, sie sich auflösen zu sehen. Wenn ich dann in meinem Zimmer war, nahm ich mir sofort eine mechanische Beschäftigung vor. Zum Beispiel wichste ich meine Schuhe. Mein Lappen glitt erst langsam und sacht auf der glänzenden Oberfläche hin und her, dann immer schneller. Wie gebannt ruhten meine Blicke darauf, ich atmete den Geruch der Creme und des Leders ein, und nach einer Weile stieg in mir ein Gefühl der Sicherheit auf, ich fühlte mich eingeschläfert und beschützt. Eines Abends vor dem Essen betrat Mutter mein Zimmer. Selbstverständlich stand ich sofort auf. "Ich habe mit dir zu reden."
    "Ja, Mutter."
    Sie seufzte, setzte

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