Der Tod ist mein Beruf
hin und her, neigten sich über mich, wichen wieder zurück, und gleichzeitig hörte ich ein Gemurmel von Stimmen, undeutlich und eintönig wie das Summen von Insekten. Die
Kreise waren verschwommen, die Umrißlinien zitterten unaufhörlich wie Gelee, und auch die Stimmen hatten etwas Weiches und Zitterndes. Weder die Kreise noch die Stimmen machten mir angst. Eines Morgens saß ich in meinem Bett, den Rücken von Kissen gestützt, und beobachtete zerstreut, wie einer der Kreise sich in Höhe meines Deckbettes bewegte, als mit einem Male etwas Furchtbares geschah. Der Kreis färbte sich. Zuerst sah ich zwei kleine rote Flecken beiderseits eines gelben, viel wichtigeren, der sich unablässig zu bewegen schien. Dann wurde das Bild schärfer, trübte sich von neuern, ich hegte einen Augenblick lang Hoffnung. Ich versuchte wegzublicken, aber meine Augen kehrten von selbst zu dem Bild zurück. Es wurde mit erschreckender Schnelligkeit schärter, ein großer erschien, von zwei roten Bändern flankiert, und mit unerbittlicher Geschwindigkeit zeichnete sich ein Gesicht ab. Augen, Nase und Mund traten hervorund plötzlich erkannte ich am Kopfende des Bettes auf einem Stuhl meine Schwester Bertha, die über ein Buch gebeugt saß. Mein Herz klopfte zum Zerspringen, ich schloß die Augen, öffnete sie wieder: Sie war immer noch da. Angst schnürte mir die Kehle zu, ich richtete mich in den Kissen auf, und ehe ich begriff, wie mir geschah, sagte ich langsam, mühevoll wie ein buchstabierendes Kind: "Wo -ist -Maria?"
Bertha sah mich mit erschrockenen Augen an, sprang auf, das Buch fiel zu Boden, und sie verließ schreiend das Zimmer . "Rudolf hat gesprochen. Rudolf hat gesprochen."
Gleich darauf traten Mama, Bertha und meine andere Schwester zögernden Schritts ins Zimmer, stellten sich an den Fuß meines Bettes und blickten mich ängstlich an. "Rudolf?"
"Ja."
"Du kannst sprechen?"
"Ja."
"Ich bin deine Mama."
"Ja."
"Erkennst du mich?"
"Ja, ja."
Ich wandte ärgerlich den Kopf und sagte: "Wo ist Maria?"
Mama schlug die Augen nieder und schwieg. Ich wiederholte zornig: "Wo ist Maria?"
"Sie ist gegangen", sagte Mama hastig. Mir zog es den Leib zusammen, und meine Hände fingen an zu zittern. Mit Mühe brachte ich heraus: "Wann?"
"An dem Tag, als du krank wurdest."
"Warum?"
Mama antwortete nicht. Ich fuhr fort: "Vater hat sie entlassen?"
"Nein."
"Sie selber hat gehen wollen?"
"Ja."
"An dem Tag, als ich krank wurde?"
"Ja."
Auch Maria hatte mich im Stich gelassen. Ich schloß die Augen. "
Willst du, daß ich bei dir bleibe, Rudolf?"
Ich sagte, ohne die Augen zu öffenen: "Nein."
Ich hörte sie im Zimmer umhergehen, Medikamente klapperten auf meinem Nachttisch, sie seufzte, dann entfernten sich ihre weichen Schritte, die Türklinke schnappte leise ein, und ich konnte endlich die Augen öffnen. In den folgenden Wochen begann ich über den Verrat Pater Thalers nachzudenken, und ich verlor den Glauben. Mehrmals am Tage kam Mama ins Zimmer . "Fühlst du dich gut? "Ja."
Willst du Bücher haben? "Nein."
"Soll ich dir vorlesen?"
"Nein."
"Sollen deine Schwestern dir Gesellschaft leisten?"
"Nein."
Es entstand ein Schweigen, und dann sagte sie: "Soll ich hierbleiben?"
"Nein."
Sie ordnete die Medikamente auf dem Nachttisch, klopfte mir die Kissen auf und lief ziellos im Zimmer umher. Ich beobachtete sie mit halbgeöffneten Augen. Wenn sie sich umdrehte, heftete ich meinen Blick auf ihren Rücken und dachte angestrengt: 'Geh doch! Geh doch!' Nach einigen Augenblicken ging sie hinaus, und ich fühlte mich glücklich, wie wenn mein Blick sie dazu gebracht hätte, zu gehen. Eines Abends, kurz vor dem Essen, kam sie ins Zimmer, betreten und schuldbewußt. Sie machte sich wie gewöhnlich zum Schein im Zimmer zu schaffen und sagte, ohne mich anzusehen: "
W as willst du heute abend essen, Rudolf?"
"Dasselbe wie alle."
Sie zog die Fenstervorhänge zu und sagte, ohne sich umzudrehen: "Vater sagt, du müßtest mit uns essen."
Das war es also. Ich sagte trocken: "Gut."
"Glaubst du, daß du es kannst?"
"Ja."
Ich stand auf. Sie erbot sich, mir zu helfen, aber ich lehnte ihre Hilfe ab. Dann ging ich allein ins Eßzimmer. Auf der Schwelle blieb ich stehen. Vater und meine beiden Schwestern saßen schon am Tisch. "Guten Abend, Vater."
Er hob den Kopf. Er sah abgemagert und krank aus. "Guten Abend, Rudolf."
Dann setzte er hinzu: "Fühlst du dich wohl?"
"Ja, Vater."
"Setz dich!"
Ich setzte mich und sagte kein Wort mehr.
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