Der Tod ist mein Beruf
vorher gesehen hätte, "komm doch herein."
Sie war eine große, dürre, verdrießlich aussehende Frau mit einem Anflug von Schnurrbart und schwarzen Haaren auf den Wangen. Unter der Lampe im Vorsaal erschien sie mir sehr gealtert. "Deine Schwestern sind da."
Ich sagte: "Und Onkel Franz?"
Sie sah mich von oben herab an und sagte trocken: "In Frankreich gefallen."
Dann setzte sie hinzu: "Nimm hier die Überschuhe. Du machst alles schmutzig."
Sie ging voraus und öffnete die Küchentür. Zwei junge Mädchen saßen da und nähten. Ich wußte, daß es meine Schwestern waren, aber ich hätte sie schwerlich wiedererkannt. "Komm doch herein", sagte meine Tante. Die beiden jungen Mädchen standen auf und sahen mich unbeweglich an. "Das ist euer Bruder Rudolf", sagte meine Tante. Sie kamen näher und drückten mir nacheinander die Hand, ohne ein Wort zu sagen; dann setzten sie sich wieder. "Na, setz dich doch, das kostet nichts", sagte die Tante. Ich setzte mich und betrachtete meine Schwestern. Sie waren sich immer etwas ähnlich gewesen, aber jetzt konnte ich sie überhaupt nicht mehr unterscheiden. Sie hatten wieder zu nähen angefangen und warfen mir von Zeit zu Zeit einen verstohlenen Blick zu. "Hast du Hunger?"
fragte die Tante. Ihre Stimme klang falsch, und ich sagte: "Nein, Tante."
"
Wir haben schon gegessen, aber wenn du Hunger gehabt hättest. .."
"Danke, Tante."
Es entstand ein neues Schweigen, dann sagte Tante: "Wie schlecht du angezogen bist, Rudolf."
Meine Schwestern hoben die Köpfe und sahen mich an. "Das ist die Windjacke, in der ich fortgegangen bin."
Daraufhin schüttelte die Tante vorwurfsvoll den Kopf und nahm ihre Arbeit wieder auf. Ich fügte hinzu: "Sie haben uns die Uniform nicht lassen wollen, weil es die Kolonialausrüstung war."
Von neuem trat ein Schweigen ein. Tante sagte: "Da bist du nun also."
"Ja, Tante."
"Deine Schwestern sind groß geworden."
"Ja, Tante."
"Du wirst hier alles verändert finden. Das Leben ist sehr hart. Man hat nichts mehr zu essen."
"Ich weiß."
Sie seufzte und machte sich wieder an ihre Arbeit. Meine Schwestern hielten den Kopf gesenkt und nähten, ohne ein Wort zu sagen. So verging eine ganze Weile. Dann plötzlich erstarrte die Stille. Es lag eine Spannung in der Luft, und ich begriff, um was es ging. Meine Tante wartete darauf, daß ich von meiner Mutter sprechen und nach Einzelheiten ihrer Krankheit und ihres Todes fragen sollte. Dann würden meine Schwestern zu weinen anfangen, meine Tante eine pathetische Erzählung loslassen, und ohne mich
irgendwie anzuklagen, würde aus ihrer Erzählung hervorgehen, daß ich es sei, der Mutters Tod verursacht hätte. "Na", sagt die Tante nach eine Weile, "du bist nicht gerade gesprächig, Rudolf."
"Nein, Tante."
"Man sollte nicht glauben, daß du zwei Jahre von zu Hause weg warst."
"Ja, Tante, zwei Jahre."
"Du scheinst dich nicht sehr für uns zu interessieren."
"Doch, Tante."
Mir war die Kehle wie zugeschnürt, ich dachte: ,Jetzt kommt der Augenblick', und sagte: "Ich wollte euch eben fragen. .."
Die drei Frauen hoben den Kopf und sahen mich an. Ich unterbrach meine Rede. In ihrer Erwartung lag etwas Entsetzliches und Freudiges, das mir durch und durch ging, und, ich weiß nicht warum, statt zu sagen: ,Wie ist Mama gestorben?', wie ich beabsichtigt hatte, sagte ich: "Wie ist Onkel Franz gestorben?"
Es entstand ein lastendes Stillschweigen, und meine Schwestern blickten die Tante an. "Sprich mir nicht von diesem Taugenichts", sagte die Tante mit eisiger Stimme. Dann setzte sie hinzu: "Er hatte nur eins im Kopf wie alle Männer. Kämpfen, kämpfen, immer nur kämpfen. ..und den Mädchen nachlaufen!"
Ich stand auf, die Tante sah mich an. "Du gehst schon?"
"Ja."
"Hast du schon eine Wohnung gefunden?"
Ich log. "Ja."
Sie richtete sich auf. "Um so besser. Hier ist es zu eng. Und dann habe ich schon deine Schwestern da. Aber eine Nacht oder zwei hätte es sich einrichten lassen."
"Danke, Tante."
Sie sah mich scharf an und betrachtete meine Kleidung. "Du hast keinen Mantel?"
"Nein, Tante."
Sie überlegte. "Warte. Ich habe vielleicht einen alten Mantel von deinem Onkel."
Sie ging hinaus, und ich blieb mit meinen Schwestern allein. Sie nähten, ohne die Köpfe zu heben. Ich sah sie nacheinander an und sagte: "Wer von euch ist denn Bertha?"
"Ich."
Die, die geantwortet hatte, hob ihr Gesicht, unsere Blicke trafen sich, und sie blickte sofort wieder weg. Man mußte in der Familie nicht gut von mir
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