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Der Tod ist mein Nachbar

Der Tod ist mein Nachbar

Titel: Der Tod ist mein Nachbar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Dexter
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für barocke Liebeslyrik war, las die Zeilen einmal und noch einmal und hatte sie auch danach nur halb verstanden.
    »Schade, daß sie nicht mehr dazu gekommen ist, die Adresse zu schreiben, Sir. Sieht aus, als ob sie jemandem einen Heiratsantrag machen wollte.«
    »Reine Vermutung …«
    »Wie bitte?«
    »Haben Sie eine Schreibmaschine im Haus gesehen?«
    »Sie könnte es ja in ihrer Praxis geschrieben haben.«
    »Deshalb sollten Sie möglichst bald dort vorbeischauen.«
    »Wie Sie meinen.«
    »Kein schlechtes Bier.« Morse leerte das Glas und stellte es auf dem etwas wackligen Tisch ab, während Lewis in kleinen Schlucken seinen Orangensaft trank.
    »Ich glaube, Sie gehen von falschen Voraussetzungen aus«, fuhr Morse fort. »Sie glauben, daß sie diese Zeilen geschrieben hat, dann aber nicht mehr wußte, wo der Mann wohnt, und sie nicht abgeschickt hat, nicht? Ziemlich unwahrscheinlich, wenn sie ihm einen Heiratsantrag machen wollte.«
    »Vielleicht hatte sie keine Briefmarke.«
    »Vielleicht …«
    Widerstrebend stand Morse auf und schob sein Glas über den Tresen. »Noch was für Sie, Lewis?«
    »Nein, danke.«
    »Geht’s nicht kleiner?« fragte die Wirtin, als Morse ihr einen Zwanzig-Pfund-Schein hinstreckte. »Sie sind heute die ersten Gäste, und ich hab noch nicht so viel Kleingeld.«
    Morse drehte sich um. »Können Sie mir zufällig mit ein bißchen Kleingeld aushelfen, Lewis?«
     
    »Sie gehen also nach wie vor davon aus, daß Rachel James diesen Text geschrieben hat«, sagte Morse.
    »Hat sie etwa nicht?«
    »Ich sehe es so, daß jemand die Karte geschrieben, sie in einen Umschlag gesteckt und den Umschlag an sie adressiert hat.«
    »Und warum hat er ihr nicht einfach die Karte geschickt?«
    »Weil den Text niemand lesen sollte.«
    »Und warum hat er sie dann nicht angerufen?«
    »Wenn man verheiratet und die Frau immer in der Nähe ist, tut man sich damit unter Umständen nicht so leicht.«
    »Wozu gibt es Telefonzellen?«
    »Riskant. Man hätte ihn sehen können.«
    Lewis nickte, schien aber nicht überzeugt. »Und das alles wegen einem Gedicht.«
    »Meinen Sie wirklich, Lewis?«
    Der griff wieder nach der Karte. »Vielleicht heißt der Absender Wilmot, und die Jahreszahl soll uns nur in die Irre führen.«
    »Das hätte wohl allenfalls bei Ihnen geklappt, Lewis. John Wilmot, Earl of Rochester, war Hofdichter bei Charles II. und hat unter anderem auch wunderbare pornographische Gedichte geschrieben.«
    »Dann ist das Gedicht also echt?«
    »Das habe ich nicht gesagt. Der Name ist echt, das Gedicht nicht. Jeder Literaturwissenschaftler würde auf den ersten Blick erkennen, daß es nicht aus dem 17. Jahrhundert stammt.«
    »Wenn Sie das sagen, Sir …«
    »Und wenn es stimmt, daß die Karte vor nicht allzu langer Zeit in einem Umschlag gekommen ist, ließe sich vielleicht der Umschlag finden, womöglich ein Poststempel feststellen, irgendwas Handschriftliches …«
    »Ich kümmere mich mal drum«, sagte Lewis ziemlich skeptisch.
    »Schon erledigt. Zwei unserer Constables sehen die Papierkörbe und den Mülleimer durch.«
    »Sie glauben also, daß es wichtig ist?«
    »Sehr wichtig sogar. Sie hat sich mit einem Mann getroffen, und zwar heimlich. Und das bedeutet, daß er wahrscheinlich verheiratet, wahrscheinlich relativ bekannt, wahrscheinlich von hier ist, wahrscheinlich eine herausragende Stellung hat …«
    »Wahrscheinlich in Peterborough wohnt«, murrte Lewis.
    »Eben deshalb ist der Poststempel so wichtig«, konterte Morse, dem der Scherz offenbar mißfiel. »Aber wenn er aus Oxford ist …«
    »Wissen Sie, wieviel Einwohner Oxford hat?«
    »Auf etwa tausend genau«, erwiderte Morse ziemlich giftig.
    Aber dann schlug seine Stimmung unvermittelt um. Er tippte auf die Postkarte.
    »Nur Mut, Lewis. Ein bißchen was wissen wir immerhin schon über den Mann.«
    Er hatte sein zweites Pint geleert und lächelte leutselig. Und da inzwischen keine weiteren Gäste gekommen waren, stand Lewis ergeben auf und ging noch einmal zum Tresen.
     
    Lewis nahm die Postkarte wieder in die Hand.
    »Geben Sie mir einen Tip, Sir.«
    »Sie wissen ja, Lewis, daß es im Barock mit der Groß- und Kleinschreibung ziemlich durcheinanderging. Auch in diesem Text sind Worte in Großbuchstaben geschrieben, von denen man es eigentlich nicht erwartet. Und da wir davon ausgehen können, daß das Gedicht nicht im Barock entstanden ist, muß hinter der auffälligen Großschreibung etwas anderes stecken. Na?«
    Derlei

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