Der Tod ist mein Nachbar
Denksportaufgaben hatte Morse seinem Sergeant schon öfter gestellt. Lewis vertiefte sich noch einmal in den lyrischen Erguß, dann erhellte sich sein Gesicht. »Jetzt begreife ich allmählich, worauf Sie hinauswollen …«
»Mit Wohligkeit – das springt einem doch förmlich ins Auge. Das kann doch nur Mittwoch bedeuten. Den Wochentag hätten wir also. Was braucht man noch, wenn man ein Rendezvous verabreden will?«
Lewis nahm sich erneut das Gedicht vor. »Die Zeit? Ja, natürlich. Zehn Mal … Kranzjungfern Fünfzehn. 10.15 Uhr.«
Morse nickte. »Und zwar eher vormittags als abends. Und der Ort?«
Lewis studierte die Zeilen zum fünftenmal.
»Zug …«
»Sehr gut. Jetzt wissen wir, was auf der Karte steht: Wir treffen uns am Bahnhof zum Zug um 10.15 Uhr. Und welcher Zug um diese Zeit geht, wissen wir ja.«
»Der nach Paddington.«
»Genau.«
»Wenn wir jetzt noch wüßten, wer der Mann ist …«
Morse legte ein kleines Bild im Paßfotoformat auf den Tisch, in dem Rachel James sich hochreckte, um einem wesentlich älteren Mann, einem würdigen Graukopf mit lächelnden Augen, einen Kuß auf die Wange zu geben.
»Wer ist das, Sir?«
»Ich weiß es nicht, Lewis, aber wenn wir das Bild an die Presse geben, werden wir es vermutlich sehr bald erfahren.«
»Falls er von hier ist.«
»Wahrscheinlich auch, wenn er nicht von hier ist.«
»Nicht ganz ungefährlich, Sir.«
»Ja, im Augenblick noch zu riskant, da stimme ich Ihnen zu. Aber wir können es anders versuchen. Morgen ist Dienstag, der Tag darauf ist Mittwoch …«
»Sie setzen darauf, daß er vielleicht auf dem Bahnhof aufkreuzt?«
»Wenn die Karte erst vor kurzem geschrieben wurde – und das möchte ich annehmen.«
»Sofern er noch nicht weiß, daß sie ermordet worden ist.«
»Oder wenn er sie selbst ermordet hat.«
»Lohnt durchaus einen Versuch, Sir. Und wenn er aufkreuzt, bedeutet das, daß er sie wahrscheinlich nicht ermordet hat …«
Morse enthielt sich jeden Kommentars.
»Und falls er sie tatsächlich ermordet hat, wäre es ein ziemlich schlauer Dreh, zum Bahnhof zu gehen, als wenn nichts wäre …«
Morse leerte sein Glas und stand auf.
»Wissen Sie was? Manchmal scheint Orangensaft Ihre kleinen grauen Zellen ganz schön in Schwung zu bringen.«
Während Lewis seinen Chef nach Kidlington fuhr, kam er wieder auf den Ausgangspunkt ihres Gesprächs zurück.
»Sie haben mir noch nicht gesagt, was Sie von diesem Owens halten, der Tür an Tür mit der Toten gewohnt hat.«
»Wir wohnen alle Tür an Tür mit dem Tod«, sagte Morse düster. »Aber lassen Sie sich dadurch in Ihrer Fahrweise nicht beeinflussen, Lewis!«
11
Mittwoch, 21. Februar
Orandum est ut sit mens sana in corpore sano. (Unser Ziel? Daß der Kopf von Grillen frei und Leibes Kraft erhalten sei.)
(Juvenal, Satiren X )
Die Sitzung der Fellows von Lonsdale sollte vormittags um zehn im Stamper Room stattfinden.
William Leslie Stamper, geboren 1880, hatte (wie es hieß) 1903 sein Examen in Oxford mit der besten Note bestanden, die jemals in Alten Sprachen vergeben worden war. Die Bemerkung in Klammern wäre überflüssig, hätte man sich nicht in späteren Jahren in dieser Beziehung ausschließlich auf W. L. Stamper selbst verlassen müssen. Die Unterlagen waren im Ersten Weltkrieg von Oxford an einen sicheren Ort gebracht worden und nie mehr aufgetaucht. Stamper selbst hatte infolge eines Gebrechens, das auch seiner überaus vielversprechenden akademischen Laufbahn ein allzu frühes Ende zu setzen drohte, keinen aktiven Kriegsdienst leisten können, was (wie es hieß) ein großer Kummer für Stamper gewesen war, der häufig beklagte, daß nicht auch er auf den Verlustlisten von Flandern oder Passchendaele zu finden war.
Man könnte es dem Leser nicht verübeln, wenn er aufgrund des vorangehenden Abschnitts zu der Ansicht gekommen wäre, Stamper sei ein Opportunist, ein heuchlerischer Egoist gewesen. Diese Vermutung ist höchst angreifbar, wenn auch nicht unbedingt unzutreffend. Als beispielsweise 1925 die Position des Master von Lonsdale vakant wurde und die akademische Welt zu Nominierungen aufgefordert wurde, hatte Stamper es abgelehnt zu kandidieren. Wenn man vor zehn Jahren befunden hatte, er sei nicht tauglich, für sein Land zu kämpfen, hatte er erklärt, könne man ihm jetzt kaum die Leitung des College anvertrauen, zumal laut Satzung der Kandidat körperlich und geistig gleichermaßen gesund zu sein hatte.
Danach hatte Stamper seine Jahre am
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