Der Tod ist mein Nachbar
College damit hingebracht, in seiner liebenswürdig-pedantischen Art Studenten in der esoterischen Kunst griechischer Prosa- und Verskomposition zu unterweisen, bis er sich aus gesundheitlichen Gründen mit fünfundsechzig, zwei Jahre früher als satzungsgemäß vorgesehen, zur Ruhe gesetzt hatte. Niemand und ganz gewiß nicht Stamper selbst (wie es hieß) rechnete damit, daß ihm noch eine lange Spanne Zeit zugemessen sei, und die Fellows nahmen einstimmig einen Antrag an, dem alten Knaben für die wenigen ihm verbleibenden Lebensjahre die schönsten Räume zuzuweisen, die das College zu bieten hatte.
So kam es, daß der legendäre Stamper als Fellow Emeritus ehrenhalber vom Zeitpunkt seines Ausscheidens im Jahre 1945 mit Kost und Logis am Lonsdale College geblieben war, zunächst bis 1955, dann bis 1965 und bis 1975. Fast hätte er es noch bis 1985 geschafft, im Alter von 104 Jahren aber hatte er dann unerwartet das Zeitliche gesegnet, und zwar nicht, weil die eine oder andere seiner Körperfunktionen versagt hätte, sondern infolge eines Sturzes nach fröhlichem Zechen bei einem Festbankett. Seine letzten Worte waren (wie es hieß) die geflüsterte Bitte, den Madeira noch einmal herumzureichen.
Die Tagesordnung, die Sir Clixby Bream und seinen Kollegen an jenem Morgen vorlag, war kurz und eindeutig:
1. Entschuldigungen wegen Abwesenheit
2. Verabschiedung des Protokolls der vorigen Sitzung (bereits verteilt)
3. Beratung des Finanzberichts für das Herbsttrimester 1995
4. Übereinkunft über das Procedere für die Wahl eines neuen Master
5. Verschiedenes
Die Punkte 1 bis 3 waren in drei Minuten abgehandelt. Es hätten zwei weniger sein können, wenn nicht der Tutor für Neuaufnahmen Aufklärung darüber erbeten hätte, warum sich die Kosten für »Büromaterial usw.« um das Vierfache der derzeitigen Inflationsrate erhöht hatten. Für diesen Posten übernahm der Quästor die volle Verantwortung, da er statt 250 Kugelschreibern versehentlich 250 Packungen bestellt hatte.
Dieses Geständnis versetzte die Anwesenden in heitere Laune, und man ging zu Punkt 4 der Tagesordnung über.
Der Master umriß noch einmal kurz die Kriterien für den potentiellen Bewerber: Erstens, daß er nicht dem geistlichen Stand angehören durfte, zweitens, daß er fachlich qualifiziert sein mußte, besonders in der »Kunst der Arithmetik« (wie es in der ursprünglichen Satzung hieß), drittens, daß er frei von körperlichen Gebrechen zu sein hatte. Zu der zweiten Bedingung bemerkte der Master, er sähe hier, da es inzwischen praktisch unmöglich sei, bei der Reifeprüfung in Mathematik durchzufallen (ein freundlicher Seitenblick auf den mit Zahlen auf Kriegsfuß stehenden Arabisch-Professor), keine Schwierigkeiten. Was allerdings die dritte Bedingung betraf, müsse er – und jetzt wurde seine Miene ernster – leider mitteilen, daß eine Nominierung zurückgezogen worden war. Bei Dr. Ridgeway, dem brillanten Mikrobiologen vom Balliol College, war im relativ jugendlichen Alter von dreiundvierzig Jahren ein schwerer Herzfehler festgestellt worden.
Begleitet von dem mitfühlenden Gemurmel aller Anwesenden fuhr der Master fort:
»Und deshalb, meine Herren, verbleiben nunmehr nur noch zwei Kandidaten. Es sei denn, daß jemand … nein?«
Nein.
Das sei erfreulich, erklärte der Master, denn damit sei sein langgehegter Wunsch in Erfüllung gegangen, sein Nachfolger möge aus ihrem College kommen. Die Wahl würde wie gewohnt verlaufen: Ein Zettel mit dem handgeschriebenen Namen des Kandidaten und der Unterschrift des abstimmenden Fellow war bis zum 19. März um zwölf Uhr mittags, also in einem Monat, im Haus des Master abzugeben.
Der Master wünschte abschließend den beiden Kandidaten alles Gute, und Julian Storrs und Denis Cornford, die zufällig nebeneinandersaßen, schüttelten sich lächelnd die Hand wie Boxer beim Gang zur Waage vor einem entscheidenden Fight.
Aber damit war die Tagesordnung noch nicht erledigt.
Unter Verschiedenes fühlte sich der Tutor für Neuaufnahmen zu seiner zweiten Wortmeldung an diesem Vormittag berufen.
»Vielleicht könnte im Hinblick auf die derzeitige Überfülle an Schreibwerkzeugen der Quästor jedem Fellow einen kostenlosen Kugelschreiber für unsere Wahlvorschläge zukommen lassen.«
Es war ein hübsches und für eine Versammlung in Oxford nicht untypisches Bonmot, und die meisten Fellows lächelten vergnügt, als sie um 10.20 Uhr aus dem Stamper Room auf den Hof traten.
Bis
Weitere Kostenlose Bücher