Der Tod ist mein Nachbar
das Haus nur noch, wenn es um eine ganz große Story ging. So wie heute. Denn als er an diesem Vormittag auf dem Bloxham Drive stand, war er davon überzeugt, daß sich hier ein Knüller abzeichnete – nicht nur für ihn, sondern auch für die ständig wachsende Zahl der Kollegen, die sich zu ihm gesellt hatten.
Und die alle warteten …
Sie mußten sich bis halb zwölf gedulden, aber schon lange vorher hatten sie wie mit einem kollektiven Instinkt gespürt, daß sich im Haus Nummer 17 etwas Grausig-Groteskes zugetragen hatte.
9
Hochwürden James P. Wellman wurde nicht, wie von uns berichtet, verhaftet, weil er seine Frau die Treppe hinuntergestoßen und eine brennende Petroleumlampe hinter ihr her geschleudert hat, sondern ist vor vier Jahren unverheiratet verstorben.
(Richtigstellung in einer US-Zeitschrift, zitiert von
Burne-Jones in einem Brief an Lady Horner)
Um 11 . 15 Uhr meinte Lewis, daß irgendjemand nun wohl etwas sagen müßte.
Seit eineinhalb Stunden klapperten Polizisten die Häuser in der Nachbarschaft ab, sprachen mit den Anwohnern, nahmen Kurzprotokolle auf. Zu einer offiziellen Verlautbarung für die versammelten Medienvertreter war es bisher noch nicht gekommen.
»Tun Sie sich keinen Zwang an«, sagte Morse.
»Soll ich ihnen alles sagen, was wir wissen?«
»Dazu werden Sie nicht lange brauchen.«
»Ich brauche also nichts zurückzuhalten?«
»Herrgott, Lewis, das hört sich ja an, als ob wir etwas hätten , das wir verbergen könnten. Wenn es so ist, warum sagen Sie es mir dann nicht als erstem?«
»Ich meinte ja nur …«
»Im Grunde ist es wohl ziemlich gleichgültig, was Sie den Leuten erzählen«, sagte Morse milder. »Aber eins noch: Sie können ihnen sagen, daß ein bißchen mehr Genauigkeit nicht schlecht wäre. Bloxham Close schreibt sich mit einem h in der Mitte.«
»Bloxham Drive , Sir.«
»Danke, Lewis.«
Mit düsterer Miene ließ sich Morse wieder auf den Sessel im Wohnzimmer sinken und setzte die erste flüchtige Durchsicht der Briefe, Dokumente und Fotos aus den Schubladen des Queen Anne-Schreibsekretärs fort. Ein recht geschmackvolles Möbel, dachte Morse. Vielleicht ein Familienerbstück?
Familie …
O Gott!
Das war immer einer der schlimmsten Aspekte an Selbstmorden und Morden: die Familie. Mum und Dad aus Torquay sowie die jüngere Schwester hatten sich schon auf den Weg gemacht. Ein Segen, daß Lewis sich so gut auf solche Dinge verstand. Lewis war überhaupt für vieles zu gebrauchen – unter anderem auch für die Kontakte mit der Presse. Und während Morse sich ziemlich lustlos weiter durch die Papiere wühlte, nahm er sich fest vor (vergaß es allerdings prompt), das seinem getreuen Sergeant zu sagen, noch ehe der heutige Tag zur Neige ging.
Lewis hatte sich kaum seinen Gesprächspartnern gestellt, als er auch schon von dem Fernsehteam gebeten wurde, ein Stück die Straße entlangzugehen, so daß man ihn den Zuschauern zuerst in Bewegung präsentieren konnte, bevor er dann in die Kamera sprach. Das sei, erklärte man ihm, beim Fernsehen so üblich. Wenn Sergeant Lewis ihnen also den kleinen Gefallen tun würde, ein paar Schritte …
Nein, Sergeant Lewis war nicht bereit, ihnen diesen Gefallen zu tun.
Aber er war bereit, ihnen zu sagen, was sie wissen wollten.
In der Küche von Bloxham Drive Nummer 17 – B-L-O-X-H-A-M – war ein Mord geschehen.
Eine Nachbarin (keine Namensnennung) hatte die Polizei verständigt, weil sie hinter dem Haus verdächtige Beobachtungen gemacht hatte.
Ein Streifenwagen war wenig später am Tatort gewesen, die Beamten hatten sich gewaltsam Einlaß durch die Vordertür verschafft und die Leiche einer jungen Frau gefunden.
Die Frau war durch das Küchenfenster hindurch erschossen worden.
Die Tote war noch nicht offiziell identifiziert.
Keinerlei Hinweise auf einen Einbruch oder Raubüberfall.
Ja, und das war eigentlich schon alles.
Im Chor der Fragenden erkannte Lewis die rauhe Stimme der rothaarigen Reporterin des Oxford Star :
»Um welche Zeit war das alles, Sergeant?«
Diese Frage hätte Lewis ohne weiteres beantworten können, aber er gedachte, Einzelheiten der bisher gewonnenen, schon überraschend handfesten Erkenntnisse nur sparsam an die Öffentlichkeit zu geben.
Die Familie Jacobs wohnte direkt gegenüber von Nummer 17. Kurz nach sieben hatte die Dame des Hauses in Morgenrock und Lockenwicklern die Haustür geöffnet, um zwei Flaschen Milch hereinzuholen. Gleichzeitig hatte sich gegenüber
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