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Der Tod ist mein Nachbar

Der Tod ist mein Nachbar

Titel: Der Tod ist mein Nachbar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Dexter
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ging zum White Horse hinüber, dem schmalen Pub, der zwischen den beiden Geschäften von Blackwell gegenüber vom Sheldonian eingezwängt war. Dort trank er langsam seinen doppelten Glenmorangie und gewöhnte sich allmählich an den Gedanken, womöglich in einem Monat Master des Lonsdale College zu sein. Sein Selbstbewußtsein war nicht stark ausgeprägt, aber er beurteilte jetzt seine Aussichten sehr viel optimistischer, ohne daß er dafür einen konkreten Grund hätte angeben können. Im Leben geschehen immer wieder Zeichen und Wunder, und bekanntlich ist es häufig nicht der Favorit, der beim Derby als erster durchs Ziel geht.
    Ja, es müßte wirklich nicht mit rechten Dingen zugehen, wenn nicht auch der Außenseiter seine Chance bekam.
    Die Studentin, die mit übereinandergeschlagenen schwarz bestrumpften Beinen auf den hölzernen Stufen vor seinem Zimmer gesessen hatte, stand auf, sobald sie ihn sah. Das Zusammensein mit Cornford, das einstündige Gespräch mit ihm einmal in der Woche war für sie inzwischen ein Highlight ihres Studiums in Oxford. Leider aber war die große Liebe seines Lebens die Geschichte. Und nicht sie.
    Und das wußte sie natürlich.

16
     
    Prosopagnoia – Unvermögen einer Person, das Gesicht einer anderen wiederzuerkennen, auch wenn beide erst kürzlich miteinander Umgang gepflegt haben.
    ( Small ’ s Enlarged English Dictionary,
13th Edition, 1806)
     
    Um 10.20 Uhr hatte Lewis vergeblich versucht, Morse im Präsidium anzurufen. Das bedeutete, daß er seine aufsehenerregende Mitteilung noch eine Weile für sich behalten mußte, dadurch aber auch reichlich Zeit hatte, seinen zweiten Auftrag auszuführen.
    Sie hatten die Praxis zu zweit betrieben, die recht vollmundig als Oxford Physiotherapy Centre firmierte und im Erdgeschoß der großen Backsteinvilla auf halber Höhe der Woodstock Road untergebracht war (auf dem schwarzen Abflußrohr war die Jahreszahl 1901 zu erkennen). Von der geräumigen Diele ging das kleine Büro ab, rechts davon war das Behandlungszimmer mit zwei Massagetischen, zwischen denen eine spanische Wand stand, und links eine unverhältnismäßig luxuriöse Toilette.
    Die bedrückte Partnerin von Rachel James, eine geschiedene Mittvierzigerin mit muskulösen Gliedern und ziemlich reizlosen Zügen, konnte wenig zur Aufklärung des Falls beitragen. Sie hatten beide die staatliche Prüfung zur Physiotherapeutin gemacht und sich nach Meinungsverschiedenheiten mit dem Krankenhaus, an dem sie gearbeitet hatten, vor zwei Jahren mit einer gemeinsamen Privatpraxis selbständig gemacht, wo sie vor allem Frauen behandelten, die Probleme mit Fuß- und Kniegelenken, mit Ellbogen und Schultern hatten. Das Geschäft hatte sich ganz gut angelassen, allerdings hätten sie – besonders Rachel, die (wie Lewis nun schon zum zweitenmal hörte) immer tiefer in die roten Zahlen geraten war – durchaus ein paar Patienten mehr gebrauchen können.
    Lewis erkundigte sich vorsichtig nach Rachels Männerbekanntschaften.
    Bewunderer hatte Rachel bestimmt jede Menge gehabt, schließlich war sie ja eine attraktive Frau – hübsches Gesicht, gute Figur –, aber von einem festen Freund hatte sie nie etwas erzählt, und in der Praxis hatte auch nie einer angerufen.
    »Gehörte der ihr?« fragte Lewis.
    »Ja.«
    Er nahm den weißen Kittel von dem Haken hinter der Tür. Auf einem ovalen Schild zogen sich die Worte Society of Physiotherapists um ein gelbes Wappen. Er griff suchend in die frisch gestärkten Taschen.
    Nichts.
    Nicht einmal Morse, sagte sich Lewis, hätte damit viel anfangen können.
    Sowohl Rachel als auch ihre Kollegin hatten ein Fach für sich im Schreibtisch gehabt, und Lewis sah sich genau an, was Rachel während der Arbeitszeit greifbar gehabt hatte: Lippenstift, Lippenbalsam, Puderdose, Deostift, eine kleine Packung Papiertaschentücher, einen roten und einen blauen Kugelschreiber, einen gelben Bleistift, ein englisches Taschenlexikon (Oxford University Press) und ein aus der Bibliothek entliehenes Buch. Keinen Taschenkalender, keine Briefe.
    Wieder sagte sich Lewis (diesmal allerdings zu Unrecht), daß Morse ebenso enttäuscht gewesen wäre wie er.
     
    Morse war kurz in seiner Junggesellenwohnung in North Oxford vorbeigefahren, um sich die Haare zu waschen und ein frisches Hemd anzuziehen. Das war nach einem Friseurbesuch für ihn ein unabdingbares Ritual, denn selbst ein paar verirrte Härchen konnten auf der von ihm selbst als ungewöhnlich empfindlich bezeichneten Haut

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