Der Tod ist mein Nachbar
höchst ärgerliche Irritationen hervorrufen.
Als er schließlich wieder ins Büro kam, war Lewis von seinen Einsätzen schon zurück.
»Sie sehen jünger aus, Sir.«
»Ich habe eher den Eindruck, daß ich durch diesen Fall schon um Jahre gealtert bin.«
»Ich meinte den Haarschnitt.«
»Ach so, ja. Ganz gut geworden, nicht?«
»Hatten Sie einen erfolgreichen Vormittag? Von dem Haarschnitt mal abgesehen …«
»Einigermaßen. Und Sie?«
Lewis lächelte beglückt.
»Was wollen Sie zuerst hören – die gute oder die schlechte Nachricht?«
»Die schlechte.«
»Schlecht kann man auch nicht direkt sagen, es ist einfach so, daß der Besuch in ihrer Praxis nichts gebracht hat.« Lewis berichtete ausführlich von dem, was er im Oxford Physiotherapy Centre vorgefunden hatte.
»Wann ist sie morgens gekommen?«
Lewis zog seine Notizen zu Rate. »Immer so ungefähr fünf nach acht oder zehn nach acht, sonst wäre sie in den Stoßverkehr von Kidlington nach Oxford gekommen.«
»Hm … Die ersten Termine, sagten Sie, hatten die beiden erst Viertel vor neun.«
»Oder auch erst um neun.«
»Was hat sie bis dahin gemacht?«
»Keine Ahnung.«
» Gelesen, Lewis.«
»Stimmt, in ihrem Fach war ein Buch aus der Bibliothek.«
»Welches?«
»Hab ich mir nicht notiert.«
»Können Sie sich nicht erinnern?«
Lewis überlegte.
» The Masters von P. C. Snow.«
Morse schüttelte lachend den Kopf. »Der Mann war kein Police Constable, Lewis. Sie meinen C. P. Snow. Interessant …«
»Wieso?«
» Wann hat sie es ausgeliehen?« wollte Morse wissen, ohne auf die Frage seines Sergeant einzugehen.
»Kann ich hellsehen?«
»Nein, aber Sie hätten«, sagte Morse langsam und mit feiner Ironie, »vierzehn Tage von dem Datum abziehen können, das als Rückgabetermin eingestempelt ist, und das findet man, indem man mit der gebotenen Sorgfalt den vorderen Buchdeckel aufschlägt.«
»Vielleicht kann man es in der Bücherei, in der sie es sich geholt hat, auch drei Wochen behalten.«
»Und welche Bücherei war das?«
Wie durch ein Wunder kam Lewis seine gute Laune auch jetzt noch nicht abhanden.
»Also wenigstens darauf kann ich Ihnen eine klare Antwort geben: Ich habe keinen Schimmer.«
»Und Ihre gute Nachricht?«
»Ich weiß, wer der Mann ist«, sagte Lewis nun seinerseits langsam und mit Nachdruck. »Der Mann auf dem Foto.«
»Tatsächlich?« fragte Morse überrascht. »Sie hatten demnach auf dem Bahnhof Glück?«
»Ja und nein. Nicht in dem Sinne, daß er dagestanden und auf seine Freundin gewartet hätte, aber ich habe mit dem Zugschaffner gesprochen, einem jungen Mann, der diesen Job erst seit ein paar Wochen macht, und der hat ihn erkannt. Er hatte sich seine Railcard geben lassen, und weil er daraufhin ein bißchen kiebig wurde, hat er sich auch seinen Namen gemerkt.«
»Was für ein Überangebot an Personalpronomen, Lewis! Wissen Sie eigentlich, wie oft Sie er und ihn und sein verwendet haben?«
»Nein, aber ich weiß, daß er mir seinen Namen genannt hat«, sagte Lewis, ohne sich darum zu scheren, daß er mit diesem persönlichen Fürwort womöglich schon wieder ins Fettnäpfchen trat. »Er heißt Julian Storrs .«
Ein paar Sekunden saß Morse regungslos da und spürte das vertraute Kribbeln zwischen den Schultern. Er griff nach seinem silbernen Parker-Füller und warf ein paar Buchstaben auf die Schreibunterlage. Dann flüsterte er:
»Ich kenne ihn, Lewis. «
»Aber erkannt haben Sie ihn nicht …«
»Die meisten Leute vergessen, wenn sie älter werden, Personennamen. Für sie sind es, ›Namen, in Schall und Rauch vergangen‹, sieben Buchstaben … na?«
»Amnesie.«
»Sehr gut, Lewis. Mit Namen habe ich selten Schwierigkeiten. Aber je älter ich werde, desto schwerer fällt es mir, Gesichter wiederzuerkennen. Für dieses Problem gibt es ein wunderbares Wort …«
»Prosop-irgendwas, so ähnlich jedenfalls.«
Morse war wie vom Donner gerührt. »Wie um Himmels willen …«
»Sie wissen ja, daß ich in der Schule nicht besonders gut war, wir hatten nicht mal einen Schulschlips, aber …« – er warf einen Blick auf die Schreibunterlage – »… wenn es darum ging, Wörter zu lesen, die auf dem Kopf stehen, war ich in meiner Klasse nicht zu schlagen.«
17
Sich den Medien zu stellen ist schlimmer, als einen Leprakranken zu baden.
(Mutter Teresa)
Sie hatten sich ohne große Mühe über Julian Charles Storrs informieren können, mit dem man Morse (wie ihm jetzt einfiel) erst vor ein paar
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