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Der Tod ist mein Nachbar

Der Tod ist mein Nachbar

Titel: Der Tod ist mein Nachbar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Dexter
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wenn sie noch lebte,
    wüßt ’ sie es nicht,
    Und litte nicht, wenn zu den Toten sie zählte.
    Und doch … Wenn sie auf Erden wandelte –,
    Spürt ’ sie den Stich, ja bange Qualen gar?
    Und lächelt ’ im Himmel betrübt mir zu und schüttelt ’ den Kopf? «
     
    Melancholisch gestimmt trat Morse auf die High Street hinaus. Bei Hardy erfaßte ihn immer Melancholie, zumal er selbst erst vor ein paar Tagen ein kostbares Lichtbild den Flammen überantwortet hatte, das bis dahin zwischen den Seiten 88 und 89 seiner Collected Poems of A. E. Housman gesteckt hatte und auf dem eine dunkelhaarige junge Frau zu sehen war, die irgendwo auf Kreta auf einer umgestürzten klassischen Säule saß. Eine Frau namens Ellie Smith, die er geliebt und verloren hatte.
    Nicht ausgeschlossen, überlegte Morse, daß nach dem Mord an Rachel James weitere Fotos verbrannt oder zerrissen worden waren. Fotos, die in Büchern gelegen hatten? In Geheimfächern?
    Vielleicht hatte Lewis recht. Wenn sie das Bild zur Veröffentlichung an die Oxford Mail gaben, bekamen sie vermutlich Hunderte von Anrufen mit sehr vielen falschen, womöglich aber auch einige mit genau den Informationen, die sie brauchten.
    Morse bog nach rechts in die Alfred Street ab und ging durch die schmale kopfsteingepflasterte Gasse bis zur Ecke Blue Boar Street.
    Am Bear Inn aber stand er vor verschlossenen Türen und stellte enttäuscht fest, daß der Pub erst um zwölf aufmachte. Inzwischen war es zwanzig nach elf geworden, und Morse hatte Durst. Gewiß, er hatte immer Durst, aber an diesem Vormittag war er so ungewöhnlich durstig, daß er sogar bereit gewesen wäre, sich ein oder zwei Pints eiskaltes Lager durch die Kehle rinnen zu lassen, was er als treuer Freund von gutem Ale zu jeder anderen Zeit kategorisch abgelehnt hätte.
    Er klopfte leicht an die Glasscheibe der Tür. Einmal. Und noch einmal. Die Tür ging auf.
    Wenige Minuten später saß Morse, nachdem er sich ausgewiesen und sein Anliegen vorgebracht hatte, mit dem Wirt, Steven Lowbridge, an einem Tisch im Schankraum.
    »Darf ich Ihnen einen Kaffee anbieten? Oder sonst etwas?« fragte Sonya, die Frau des Wirts.
    Morse drehte sich um und las die wohlbekannten Biernamen an der Reihe der Zapfhähne hinter dem Tresen.
    »Ist das Burton trinkbar?«
    Der Wirt betrieb, wie er Morse erzählte, schon über fünf Jahre lang und ausgesprochen gern das Bear Inn . Seit 1242 stand eine Schenke an dieser Stelle, und nach wie vor drängten sich Studenten und Studentinnen vom Oriel und Christ Church, aber auch vom Lincoln und University College in den kleinen Räumen.
    Und wie war das mit den Krawatten?
    Das Bear Inn war landesweit, ja weltweit berühmt wegen seiner nach letzter Zählung etwa fünftausend Krawatten. An allen Wänden und sogar an den Decken sämtlicher Räume waren sie in Vitrinen ausgestellt – Regimentskrawatten, Sportclub-Krawatten, Schul- und Ehemaligenkrawatten, Krawatten jeder nur denkbaren Provenienz. Die Sammlung ging zurück bis ins Jahr 1954. Damals hatte der Wirt jedem Gast, der bereit war, sich zehn Zentimeter vom hinteren Ende seiner Krawatte abschneiden zu lassen, für die Trophäe zwei Pint Bier geboten. Die Abschnitte hatte er in Vitrinen angeordnet und auf einem Kärtchen mit Herkunft und Beschreibung gekennzeichnet.
    Morse nickte dem Wirt, der diese Geschichte nicht zum erstenmal erzählte, ermutigend zu, wobei er hin und wieder einen Blick auf die Vitrine gegenüber warf: Yale University Fencing Club; Kenya Police; Welsh Schoolboys’ Hockey Association; Women’s Land Army …
    Nicht zu fassen, diese schwindelnde Fülle von Schlipsen!
    Sein Glas war leer, und die Wirtin fragte vorsichtig nach, ob sie dem Chief Inspector vielleicht noch ein Pint zapfen dürfte.
    Morse hatte nichts dagegen. Während er sich auf der Herrentoilette die Hände wusch, überlegte er, wohin wohl die vielen Waschbeckenstöpsel dieser Welt – Stöpsel aus Pubs, Hotels, Bedürfnisanstalten – verschwunden waren. Irgendwo mußte es einen Haufen von Waschbeckenstöpseln geben, der mindestens die Ausmaße einer ägyptischen Pyramide hatte.
    In den Schankraum zurückgekehrt, holte er sein Foto heraus und deutete auf das gerade noch erkennbare Stück Krawatte.
    »Ob Sie die auch in Ihrer Sammlung haben?«
    Der Wirt besah sich die braune Krawatte mit den schmalen Streifen und schüttelte zweifelnd den Kopf.
    »Kommt mir unbekannt vor. Aber tun Sie sich keinen Zwang an, schauen Sie sich nur um, so lange Sie

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