Der Tod ist mein Nachbar
geöffneten Haustür stehen, durch die ein eisiger Luftzug wehte.
»Begreifst du denn gar nichts? Ich habe es nicht gewußt. Ich hoffte, du würdest alles abstreiten, selbst wenn du dazu hättest lügen müssen. Aber nicht einmal dazu hattest du genug Courage. Nicht einmal diesen Schmerz hast du mir ersparen können.«
Die Tür schlug hinter ihm zu. Shelly Cornford ging zurück ins Wohnzimmer und goß sich einen großen Gin mit sehr wenig Tonic ein.
Und wäre am liebsten gestorben.
47
Virgil G. Perkins, Autor des internationalen Bestsellers Freude am Joggen (Crown Publications, New York 1992), brach gestern in St. Paul beim Joggen mit einer Gruppe Gleichgesinnter tot zusammen. Mr. Perkins ( 26 ) hinterläßt seine Frau, Beverley, ihre gemeinsame Tochter Alexis sowie sieben Kinder aus früheren Ehen.
( Minnesota Clarion, 23. Dezember 1995)
Im hellbeige getünchten Kings Arms Ecke Parks Road und Holywell Street hatte Morse einen bislang erstaunlich abstinenten Abend verbracht. Nach dem ersten Pint hatte er an der Tür festgestellt, daß das Pub im Egon Ronay Guide (1995) empfohlen wurde, und nachdem er sich auf der Toilette seine Spritze gesetzt hatte, hatte er eine Spinat-Champignon-Lasagne mit Knoblauchbrot und Salat bestellt. Keins der einzelnen Bestandteile dieses frugalen Gerichts war so recht nach seinem Geschmack, aber die Diätassistentin hatte ihm derlei Kost wärmstens empfohlen, und er mußte einräumen, daß sie tatsächlich eßbar war.
Es war jetzt 19.45 Uhr.
Eine Zigarette als Zugabe wäre eine wahre Paradiesesfreude gewesen, auf die er heldenmütig verzichtete. Während er die Collegewappen, die kolorierten Stiche und die Fotos distinguierter Gäste betrachtete, von denen er umgeben war, überlegte er, ob er sich nicht noch ein paar Kalorien in flüssiger Form leisten sollte. In diesem Moment kam der Wirt auf ihn zu.
»Ich hatte Sie noch gar nicht entdeckt, Inspector! Das ist für Sie. Es liegt schon zwei Wochen hier.«
Morse nahm ihm die gedruckte Karte ab und las:
Tapetenwechsel! Endlich steht der Möbelwagen b e reit, um meine Habe von London nach Oxford zu schaffen. Und am 18. März will ich meinen Patio in den Morris Villas 53, Cowley, mit Champagner begießen. Kommt und helft mir dabei! RSVP (Adresse s. oben)
Deborah Crawford.
Darunter stand handschriftlich: Ich rechne mit Dir, Morse. DC.
Morse hatte sie deutlich in Erinnerung: eine schlanke, unverheiratete Blondine, die ihn nach einer relativ alkoholarmen Party der Metropolitan Police eingeladen hatte, in ihrer Wohnung in Nordlondon zu übernachten. Nach so kurzer Bekanntschaft, hatte er damals gesagt, sei diese Unterkunft vielleicht unangemessen.
Ja, so hatte er es gesagt: unangemessen …
Aufgeblasener Trottel!
Immerhin hatte er ihr seine Adresse gegeben, und sie hatte geschworen, daß sie die nie vergessen würde.
Da sieht man mal, wie es mit Schwüren geht …
»Ihr lag sehr viel daran, daß Sie das Schreiben bekommen …«, fing der Wirt an, aber in dem Moment ging die Tür zur Holywell Street auf, und er wandte sich dem neuen Gast zu.
»Denis! Heute abend hab ich Sie nicht erwartet. Wozu laufen wir am Sonntag morgen eigentlich sechs Meilen, wenn wir schon am gleichen Abend gewichtsmäßig wieder sündigen?«
Morse sah erstaunt auf.
»Sie waren heute früh zusammen joggen? Um welche Zeit?«
»Jedenfalls viel zu früh, stimmt’s, David?«
Der Wirt lächelte. »Blödsinnig früh. Und das am Sonntag morgen!«
»Um welche Zeit?« wiederholte Morse.
»Viertel vor sieben. Wir haben uns hier vor dem Pub getroffen.«
»Und wohin sind Sie gelaufen?«
»Wir waren zu fünft. Zur Plain, dann die Iffley Road hoch, über die Donnington Bridge, Abingdon Road bis Carfax, über Cornmarket und St. Giles’ zur Woodstock Road bis zur North Parade, dann zur Banbury und South Parks. Als wir zurückkamen, war es …«
»… kurz vor acht«, ergänzte Cornford und deutete auf das leere Glas des Chief Inspector. »Was nehmen Sie?«
»Nein, es ist meine Runde …«
»Unsinn …«
»Wenn Sie darauf bestehen …«
Es war schließlich der Wirt, der den edlen Wettstreit gewann und zum Tresen ging, während Cornford sich setzte.
»Sie haben mir heute nachmittag gesagt, daß Sie allein joggen waren«, hielt Morse ihm vor.
»Da haben Sie mich mißverstanden. Sie fragten, wenn ich mich recht erinnere: ›Nur Sie?‹, und ich bejahte, weil ich davon ausging, daß Sie wissen wollten, ob Shelly mitgelaufen
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