Der Tod ist mein Nachbar
ist.«
»Und sie war nicht dabei?«
»Nein. Das ist sie nie.«
»Sie blieb im Bett?«
»Wo sonst?«
Dazu äußerte Morse sich nicht.
»Joggen Sie auch, Inspector?« fragte Cornford mechanisch und offenbar nur, um etwas zu sagen.
»Ich bin mehr ein Geher. Manchmal gehe ich nach Summertown, um mir eine Zeitung zu holen. Man muß sich schließlich fit halten.«
Cornford lächelte matt. »Der Master von Lonsdale muß auf jeden Fall fit sein, das steht sogar in der Satzung.«
»Da muß man sich aber fragen, wie Sir Clixby es so weit gebracht hat.«
»Wenn man älter wird«, gab Cornford unerwartet zurück, »können sich jüngere Leute nur schwer vorstellen, daß man selber mal jung war, ein guter Sportler und dergleichen. Ist das nicht auch Ihre Erfahrung?«
»Ja, das stimmt schon …«
»Der Master war ein ausgezeichneter Hockeyspieler, er soll sogar mal in der Nationalmannschaft gewesen sein.«
Der Wirt kam mit zwei Pints Bitter zurück und widmete sich dann wieder seinen Pflichten an der Theke.
Morse hatte das deutliche Gefühl, daß Cornford nervös war. Vielleicht wegen seiner Frau? Hatte sie etwas mit dem Mord an Geoffrey Owens zu tun? Sehr unwahrscheinlich. Sicher war nur eins: Denis Cornford war endgültig aus dem Schneider.
Sehr bald hatte Morse sein Bier ausgetrunken und wandte sich zum Gehen. Deborahs Karte steckte er in die Brusttasche seines Jacketts, wo er sie prompt vergaß.
Allerdings nur zeitweilig. Später nahm er sie noch einmal heraus und betrachtete sie genauer. Und mit einem plötzlichen sonderbaren Gefühl der Erleuchtung.
48
Euch sage ich allen, die ihr vorübergehet: Schauet doch und sehet, ob irgend ein Schmerz sei wie mein Schmerz, der mich getroffen hat; denn der Herr hat mich voll Jammers gemacht am Tage seines grimmigen Zorns.
( Klagelieder Jeremias 1, 12)
Mit einem unbeschreiblichen Gefühl der Erleichterung hörte Shelly Cornford fünf Minuten vor halb zwölf den Schlüssel im Haustürschloß knirschen. Seit fast zwei Stunden saß sie, ein weißes Bettjäckchen über dem Schlafanzug, aufrecht im Bett, von der Angst gepeinigt, ihr Mann könne auf Nimmerwiedersehen in der dunklen Nacht verschwunden sein, sei vielleicht von der Magdalen Bridge oder einem hohen Turm gesprungen, habe sich auf die Eisenbahngleise gelegt oder sich die Pulsadern aufgeschnitten. Vergeblich hatte sie versucht, sich mit logischen Einwänden zu trösten: Das Wasser ist vermutlich gar nicht tief genug, an die Gleise kommt man nicht so ohne weiteres heran, er hat keine Rasierklingen bei sich, Carfax Tower und die Türme von St. Mary’s und St. Michael’s sind längst geschlossen …
Komm zurück zu mir, Denis. Es ist mir gleich, was aus mir wird, aber komm heute abend zurück. Bitte, lieber Gott, laß ihn wohlbehalten zurückkommen. O Gott, erlöse mich von diesem unendlichen Jammer.
Seine Worte hatten sie bis ins Herz getroffen: »… Nicht einmal zum Lügen hattest du genug Courage … nicht einmal diesen Schmerz hast du mir ersparen können …«
Dabei waren beide Vorwürfe so ungerecht!
Allen, die es hören oder auch nicht hören wollten, hatte ihre Mutter erzählt, was in Shellys Zeugnis von der Junior High School gestanden hatte: »Sie ist ein mutiges Mädchen …« Es war einfach so, daß sie ihren Mann mehr liebte als irgend etwas und irgendjemand sonst auf der Welt. Dann aber kam ihr schmerzlich wieder das in den Sinn, was sie an jenem Abend gesagt hatte: daß sie sich mehr als alles in der Welt wünschte, Denis möge Master werden.
Und jetzt? Ihr Leben lag in Trümmern, ihr Herz war gebrochen. Es gab keinen Menschen, an den sie sich wenden konnte. Oder vielleicht doch?
Und immer wieder erinnerte sie sich an das peinigende Gespräch:
»Clixby?«
»Shelly!«
»Bist du allein?«
»Ja. Was für eine schöne Überraschung. Kommst du vorbei?«
»Denis weiß Bescheid.«
»Was?«
»Denis weiß Bescheid.«
»Was soll das heißen? Im Grunde gibt es da doch gar nichts zu wissen.«
» Nichts? War das alles nichts für dich?«
»Das klingt ja wie die Sprüche Salomos. Oder war es der Prediger?«
»Es hat dir demnach wirklich nichts bedeutet …«
»Herrgott, Kind, es war doch nur das eine Mal …«
»Du willst mich nicht verstehen.«
»Wie hat er es erfahren?«
»Überhaupt nicht.«
»Du sprichst in Rätseln.«
»Es war nur eine Vermutung. Er hat heute abend mit dir gesprochen …«
»Ja, sicher. Du warst doch dabei.«
»Hast du irgendwas gesagt oder
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