Der Tod kommt nach Pemberley: Kriminalroman (German Edition)
überdenken und sicherlich auch mit Mr. Wickham besprechen wollen, aber es wäre sehr hilfreich, wenn ich morgen Abend um neun Uhr Ihre Entscheidung erfahren dürfte.«
»Wir erwarten George Wickham und seinen Anwalt, Mr. Alveston, für heute Nachmittag. Nach allem, was Sie berichtet haben, wird Mr. Wickham das Angebot Ihres Bruders gewiss dankbar annehmen. Wie ich gehört habe, wollen Mr. und Mrs. Wickham zunächst nach Longbourn fahren und dort über ihre Zukunft entscheiden. Mrs. Wickham möchte unbedingt zu ihrer Mutter und zu den Freundinnen aus Kindheitstagen. Sollte das Paar wirklich auswandern, würde sie diese Menschen wohl nie wiedersehen.«
Samuel Cornbinder erhob sich. »Es wäre äußerst unwahrscheinlich. Der Atlantik lässt sich nun einmal nicht so leicht überqueren, und nur wenige meiner Bekannten in Virginia haben jemals die Rückfahrt auf sich genommen oder sie auch nur angestrebt. Ich danke Ihnen dafür, dass Sie mich so kurzfristig empfangen haben, Sir, und für die großzügige Zustimmung zu dem von mir dargelegten Vorhaben.«
»Ihre Dankbarkeit ist edelmütig, aber ich verdiene sie nicht. Ich werde meine Entscheidung wohl kaum bereuen. Mr. Wickham vielleicht schon.«
»Das glaube ich nicht.«
»Wollen Sie sein Eintreffen nicht abwarten?«
»Nein, Sir. Ich habe für ihn getan, was ich konnte. Er möchte mich erst heute Abend sprechen.«
Mit diesen Worten schüttelte er Darcy ungemein kraftvoll die Hand, setzte seinen Hut auf und ging.
4
U m vier Uhr nachmittags hörten sie Schritte, dann Stimmen. Wickham und Alveston waren endlich vom Strafgerichtshof Old Bailey zurückgekehrt. Darcy sprang von seinem Stuhl auf und verspürte ein heftiges Unbehagen. Er wusste, wie sehr das Gelingen des gesellschaftlichen Miteinanders auf der entlastenden Einhaltung allgemein anerkannter Konventionen beruhte, und war von Kindesbeinen an darin geschult worden, sich wie ein Gentleman zu benehmen. Seine Mutter hatte zwar gelegentlich etwas gemäßigtere Ansichten geäußert und erklärt, gute Manieren bestünden im Grunde darin, Rücksicht auf die Gefühle anderer Menschen zu nehmen, insbesondere in Gesellschaft von Angehörigen eines niedrigeren Standes, doch seine Tante, Lady Catherine de Bourgh, hatte solche Worte stets geflissentlich ignoriert. Jetzt aber ließen ihn sowohl die Konvention als auch der mütterliche Rat im Stich. Es gab keine Regeln für den Umgang mit einem Mann, den er dem Brauch zufolge als seinen Schwager bezeichnen musste und den man nur wenige Stunden zuvor zum Tod durch Erhängen verurteilt hatte. Er freute sich selbstverständlich darüber, dass Wickham dem Henker entronnen war, doch galt diese Freude nicht eher dem eigenen Seelenfrieden und Ruf als Wickhams Rettung? Ihm herzlich die Hand zu schütteln, wie es Anstand und Mitgefühl geboten, erschien ihm jetzt nicht nur unpassend, sondern auch verlogen.
Kaum hatten sie die Schritte gehört, waren Mr. und Mrs. Gardiner aus dem Zimmer geeilt. Darcy vernahm ihre Stimmen, doch keine Erwiderung. Dann wurde die Zimmertür geöffnet. Die Gardiners traten ein und stupsten Wickham, der mit Alveston gekommen war, sanft in den Raum.
Darcy hoffte, man würde ihm seinen Schreck und sein Entsetzen nicht anmerken. Es war kaum zu glauben, dass der Mann, der die Kraft aufgebracht hatte, kerzengerade in der Anklagebank zu stehen und mit klarer, fester Stimme seine Unschuld zu beteuern, derselbe Wickham gewesen war, der jetzt vor ihnen stand. Er wirkte wie geschrumpft, die Kleider, die er vor Gericht getragen hatte, schienen ihm jetzt viel zu groß zu sein, schäbige, billige, schlecht sitzende Sachen für einen Mann, von dem man nicht erwartet hatte, dass er sie lange tragen würde. Sein Gesicht war noch von der ungesunden Gefängnisblässe gezeichnet, doch als Darcy ihm kurz in die Augen sah, blitzte in dem berechnenden, verächtlichen Blick der alte Wickham auf. Allem voran aber wirkte er so erschöpft, als hätten das Entsetzen über den Schuldspruch und die Erleichterung über die gewährte Gnade mehr Kraft verbraucht, als ein Menschenkörper besaß. Doch es gab ihn noch, den alten Wickham, und Darcy erkannte, wie tapfer und angestrengt er aufrecht zu stehen und sich dem, was nun kam, zu stellen versuchte.
»Lieber Mr. Wickham«, hob Mrs. Gardiner an, »Sie müssen schlafen – essen vielleicht auch, aber vor allem schlafen! Ich zeige Ihnen ein Zimmer, in dem Sie ruhen und etwas zu sich nehmen können. Es wäre doch wirklich
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