Der Tod meiner Schwester
Ethan”, beharrte ich. “Dein Vater kann noch weitere zehn Jahre leben.” Ich kam mir grausam vor, doch meine Familie lebte seit einundvierzig Jahren mit dem Verlust von Isabel. George Lewis und seine Familie hatten die unrechtmäßige Haftstrafe erleiden müssen. Ich wollte gar nicht daran denken, dass er vielleicht noch leben würde, wenn er nicht für einen Mord hätte büßen müssen, den er nicht begangen hatte. Wenn ein schrecklicher Fehler unterlaufen war, musste man ihn korrigieren.
“Du glaubst, dass Ned es getan hat.”
Ich nickte langsam.
Ethan schloss die Augen und atmete aus. “In Ordnung”, sagte er, als er die Augen wieder öffnete. Statt mich anzusehen, starrte er aus dem Fenster. “Ich bringe den Brief zur Polizei.”
“Warum?”, fragte ich, verwirrt von seinem Sinneswandel.
Er blickte mich an. “Weil ich die Bestätigung brauche, dass du dich irrst.”
6. KAPITEL
L ucy
Ich wohnte in Plainfield, nur zehn Autominuten von meiner Heimatstadt Westfield entfernt und nur zwei Blocks weg von der Highschool, sodass ich zu Fuß zur Arbeit gehen konnte. Heute hatte die Klimaanlage in der Schule schon in den ersten zehn Minuten meines Sommerkurses versagt. Ich hatte Schwierigkeiten gehabt, mich auf meinen Kursplan zu konzentrieren, und die Kinder, die am Anfang immer lustlos waren, wollten überall sein, nur nicht eingepfercht im stickigen Schulgebäude. Da saßen wir also, zwanzig mürrische Kinder und ich. Ich war genauso froh wie sie, als es endlich klingelte.
Auf dem Weg nach Hause fragte ich mich, wie Julies Lunch mit Ethan wohl gelaufen war. So sehr ich auch versucht hatte, es ihr auszureden – sie hatte natürlich recht, dass die Polizei von dem Brief erfahren sollte. Ich wollte nur nicht, dass sie etwas emotional so Anstrengendes durchmachen musste, und wünschte, dass sie zumindest mit dem Treffen mit Ethan gewartet hätte, bis ich sie hätte begleiten können. Ihr war bange gewesen davor. In meiner Pause hatte ich sie angerufen, um sie moralisch zu unterstützen. Da befand sie sich gerade auf der Schnellstraße nach Spring Lake und wollte am Handy nicht mit mir sprechen, solange sie den Wagen steuerte. Das war Julie. Immer, immer vorsichtig. Immer darauf bedacht, ja keinen Fehler zu machen.
Ich wohnte in einem der großen viktorianischen Häuser in der West Eighth Street, die man so wunderschön restauriert hatte. Man hatte das Haus in drei geräumige Apartments aufgeteilt. Meines befand sich im obersten Stock, wo ich das sonnige Turmzimmer als Musikzimmer eingerichtet hatte. Meine Nachbarn waren ein schwules Paar, das das Haus renoviert hatte, sowie ein afro-amerikanisches Paar, das ebenfalls an der Highschool unterrichtete. Abends saßen wir manchmal alle fünf auf der Veranda und erzählten uns Geschichten. Ich hatte Glück, dass sich niemand an meinem Geigenspiel störte. Ich wohnte sehr gerne dort.
Bevor ich noch das Haus erreichte, wusste ich, dass Shannon in meinem Apartment war, denn ich sah sie am Turmfenster stehen. Wahrscheinlich hielt sie schon nach mir Ausschau. Ich winkte, und sie winkte zurück, und ich fragte mich, was los war. Shannon hatte einen Schlüssel zu meiner Wohnung und konnte kommen und gehen, wie sie wollte, doch sie war seit Monaten nicht mehr unangekündigt aufgetaucht.
Ich durchquerte den marmorgefliesten Flur und ging gerade die breite Wendeltreppe hinauf, als ich ihre Stimme von oben hörte.
“Wie war’s in der Schule?”, rief sie zu mir hinunter.
Ich legte den Kopf zurück und sah, wie sie sich hoch über mir über das Treppengeländer beugte.
“Heiß”, antwortete ich. “Die Klimaanlage war kaputt.”
“Oje, du Arme”, bedauerte mich Shannon.
“Und solltest du nicht bei der Arbeit sein?”, fragte ich, als ich oben angekommen war, wo ich sie umarmte.
“Ich gehe später hin”, erklärte sie. “Ich muss mit dir sprechen.” Sie hatte wunderschöne braune Augen. Ich stellte mir vor, dass die Jungen nur so vor ihr dahinschmolzen. Aber waren ihre Augen heute nicht ein wenig blutunterlaufen? Ich versuchte, sie nicht anzustarren.
Ich legte meinen Arm um sie, und gemeinsam betraten wir die Wohnung. “Wo liegt das Problem, Kleines?”
Sie umfasste meine Taille. “Einfach alles”, gab sie zurück.
Ich legte meine Aktentasche auf den Stuhl im Esszimmer. “Möchtest du etwas trinken?” Ich nahm mein grünes Top am Saum und fächelte mir etwas Kühlung auf die feuchte Haut. “Soda? Eistee?”
Sie schüttelte den Kopf. “Ich habe
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