Der Tod meiner Schwester
bohrte ich weiter in Wanda.
“Natürlich kann sie lesen.” George blickte finster. “Glaubst du, dass wir den ganzen Tag Baumwolle ernten oder so was?”
“Halt die Klappe”, wies ihn Wanda zurecht, bevor sie sich mir zuwandte. “Klar kann ich lesen.”
“Hast du ein paar Nancy-Drew-Bücher gelesen?”
“Einige”, behauptete sie.
Ich wusste nicht, ob ich ihr glauben sollte. “Hast du einen Lieblingsband?” Ich wollte sie auf die Probe stellen, weil ich mir nicht vorstellen konnte, dass ein schwarzes Mädchen Nancy Drew las. Ich fragte mich, wie sich das anfühlte, wenn man schwarz war und ein Buch las, in dem alle Menschen weiß waren. Und was das anging – wie war es überhaupt für Wanda, ein Buch zu lesen oder fernzusehen? Die einzige TV-Show, die mir einfiel, in der ein Schwarzer mitspielte, war Jack Bennys Show mit Rochester, dem Butler, oder was auch immer er darstellen sollte.
“Hab keinen Lieblingsband”, sagte Wanda, die ihre Leine einholte, weil sich Seegras darin verfangen hatte.
“Also, mein Lieblingsband ist
Der Fall der tanzenden Puppen”
, machte ich weiter. “Der ist neu.”
“Den habe ich nicht gelesen.” Wanda spießte ihre Angel in den Sand und machte sich daran, das Seegras abzupulen. “Ich mochte das, wo sie sich dem Zirkus anschloss.”
Mir klappte der Kiefer herunter. “
Das Geheimnis des Zirkusdirektors
?”
“Ja, mit diesem –”, sie deutete auf ihr Handgelenk, “– diesem Pferde-Armband.”
“Richtig”, bestätigte ich. Sie hatte es tatsächlich gelesen, und ich schämte mich, dass ich daran gezweifelt hatte. “Ich heiße übrigens nicht wirklich Nancy”, gestand ich, weil ich ebenso aufrichtig sein wollte wie sie. “Ich heiße Julie.”
“Warum hast du dann Nancy gesagt?”
“Weil ich gerne Geheimnisse löse, so wie sie.”
“Hier gibt’s keine Geheimnisse”, mischte George sich ein. “Also kannst du auch wieder auf deine Seite des Kanals gehen.”
“Halt die Klappe”, maulte Wanda erneut. “Hast du einen Bruder?”, fragte sie mich und verdrehte demonstrativ die Augen.
Grinsend schüttelte ich den Kopf.
“Du Glückliche!” Ihr Köder steckte noch immer am Haken und mit einem Schwung warf sie die Angel wieder aus.
“Aber du hast eine Schwester”, behauptete George.
“Zwei”, verbesserte ich. “Lucy und Isabel.”
“Welche trägt den Bikini?”, fragte er.
“Keine”, erwiderte ich, obwohl ich wusste, dass er Isabel meinte. Aber eigentlich trug sie gar keinen richtigen Bikini, weil das Unterteil ihren Bauch bis knapp unter dem Nabel bedeckte. Pam Durant war das einzige Mädchen, das ich kannte, das einen richtigen Bikini trug, mit einem ganz knappen Höschen.
“Du lügst”, sagte er. “Da ist eine, die diesen zweiteiligen Badeanzug trägt. Sie sitzt manchmal auf der Spundwand und spricht mit den Jungs in ihren Booten.”
“Das ist Isabel. Sie ist siebzehn.”
“Sie ist eine verdammt gut aussehende Frau”, sagte George auf eine Art, bei der ich mich unbehaglich fühlte.
“Sprich nicht so über meine Schwester”, maulte ich.
“Wie denn?”, provozierte er mich grinsend. Er hatte die perfektesten weißen Zähne, die ich je gesehen hatte.
“Du weißt schon wie”, erwiderte ich.
Ich glaubte etwas zu hören und wandte lauschend den Kopf. Da war es – das leise Gackern von Hühnern. Ich schaute zu der Hütte des Hahnen-Manns. Man konnte sie zwischen dem hohen Gras und Schilf kaum erkennen.
“Seid ihr schon dem Hahnen-Mann begegnet?”, fragte ich Wanda und George.
“Wer ist der Hahnen-Mann?” Wanda zog die Stirn kraus.
An meiner Leine ruckte etwas. Ich holte sie ein bisschen ein, doch was auch immer es gewesen war, es hatte sich davongemacht. Vermutlich war auch mein Köder fort, doch das Angeln war mir sowieso ziemlich egal. Ich fand gerade neue Freunde.
“Er wohnt in der Hütte dort.” Ich zeigte auf den baufälligen Schuppen auf der anderen Seite des Docks.
“Ich habe ihn mal gesehen”, erzählte Wanda. “George und ich gingen mal hinüber, um dort zu fischen, und er hat uns fortgejagt.”
“Ich glaube, dass er etwas zu verbergen hat”, flüsterte ich.
George lachte. “Du hast es wirklich auf Ärger angelegt, oder?”
Salena kam mit einer Schüssel Himbeeren herübergeschlendert und bot mir welche an.
“Danke”, sagte ich und steckte ein paar in den Mund.
“Deine Mama weiß, dass du hier drüben bist, Liebes?”, erkundigte sich Salena.
Ich schüttelte den Kopf. “Nein, aber ich
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