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Der Tod meiner Schwester

Der Tod meiner Schwester

Titel: Der Tod meiner Schwester Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Diane Chamberlain
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darf an diesem Ende des Kanals überall hin.” Ich hoffte, dass das der Wahrheit entsprach. Ich wusste, dass ich mit dem Boot an dieser Seite des Kanals überall hinfahren durfte. Doch niemand hatte mir ausdrücklich erlaubt, das Boot zu verlassen und jemanden zu besuchen.
    “Nun, das nächste Mal fragst du lieber, hörst du?”, vergewisserte sich Salena.
    Ich nickte.
    “Genau, du sagst: ‘Hey, Mama, darf ich mit den Niggern angeln?’“, warf George ein.
    Ich war entsetzt, dass er dieses Wort aussprach. Er bemerkte meinen schockierten Ausdruck und brach in Gelächter aus.
    “Hey, Mädchen”, sagte er, “ich nehme dich nur auf den Arm.”
    Salena lachte ebenfalls, doch Wanda sah ihren Bruder nur voller Abscheu an. “Du bist so blöd”, beschimpfte sie ihn und wandte sich dann mir zu. “Er wurde gestern achtzehn, und jetzt ist er noch blöder als vorher.”
    Nun hatte ich endlich ein paar neue Freunde. Sie waren anders als alle anderen Menschen, die ich kannte, doch das machte es nur noch spannender. In jener Woche fuhr ich noch einige Male über den Kanal. Ich war gerne dort drüben. Salena entpuppte sich als Wandas Cousine, nicht ihre Mutter, wie ich ursprünglich gedacht hatte. Ich erfuhr, dass sie alle – auch die Männer, die sich meist abseits hielten – Cousinen oder Cousins waren. Wanda und George hatten keinen Vater, und ihre Mutter war sehr krank, weshalb ihre älteren Verwandten die beiden zu sich genommen hatten.
    Es wurde immer jemand “auf den Arm genommen”, wie George das nannte, und es dauerte ein wenig, bis ich kapierte, dass das so etwas wie eine Zuneigungsbekundung war. Ich überließ ihnen jeden Fisch, den ich fing, und entdeckte, dass auch sie die Kugelfische und Knurrhähne wieder zurück ins Wasser warfen. Ich gab ihnen mein Fernglas und ließ sie nacheinander hindurchsehen. Ich pflückte eine Schale voll Blaubeeren auf dem Grundstück gegenüber von unserem Haus und teilte sie mit den Lewis. Ich nahm
Der Fall der tanzenden Puppe
mit, setzte mich auf einen umgedrehten Eimer und las Wanda das Buch vor. Sie bot nie an, auch einmal vorzulesen, und ich bat sie nicht darum, weil ich befürchtete, dass sie vielleicht nicht so gut lesen konnte wie ich und ihr das peinlich wäre. Ich las mit sehr viel Ausdruck, und selbst George und Salena hörten nach einer Weile zu.
    Ich nahm Wanda auf eine Spritztour mit dem Boot mit und packte an dem Tag eine zusätzliche Schwimmweste ein. Ich wollte mit ihr über den Kanal fahren, damit sie meine Familie kennenlernte, doch instinktiv wusste ich, dass ich das besser nicht tat. Ich hatte niemandem erzählt, wo ich meine Vormittage verbrachte. Sie brauchten nur zur anderen Seite des Kanals zu schauen, um mich zu sehen, doch sie waren so daran gewöhnt, die farbigen Angler zu ignorieren, dass sie es vermutlich nie taten.
    Doch eines Tages stand ich gerade neben Wanda und wollte einen Killifisch als Köder an meinen Haken stecken, als plötzlich ein Weißer auf dem Trampelpfad durch das hohe Gras auf uns zukam. Wir alle sahen ihn an. Ich war gedanklich so weit entfernt von meiner Familie, dass ich erst an dem Hinken meinen Vater erkannte.
    “Daddy!”, rief ich. “Was machst du hier?”
    Ich bemerkte ein paar graue Strähnen im braunen Haar meines Vaters, als er näher kam. Er ging um einen Fischeimer herum und machte um George einen noch weiteren Bogen. George blitzte ihn wütend an und sah aus, als ob er ihm nur zu gerne ein Messer in die Seite rammen wollte. Diesen Ausdruck hatte ich an George noch nie gesehen.
    “Du musst mit nach Hause kommen”, sagte Daddy. Seine Stimme klang ruhig, doch ich wusste, dass dahinter Zorn lauerte. Mein Vater war niemand, der schlug oder auch nur die Stimme erhob, doch lautloser Zorn konnte manchmal viel schwerer zu ertragen sein.
    “Warum?”, fragte ich, auch wenn ich genau wusste, warum. Ich hielt den Killifisch in der einen Hand, den Haken in der anderen, und fühlte mich wie gelähmt.
    “Wir haben nach dir gesucht”, erklärte er. “Du weißt, dass du uns sagen sollst, wo du bist. Wirf den Killifisch ins Wasser und komm mit”, befahl er.
    Mit einem Gefühl der Unsicherheit warf ich den Killifisch über den Zaun. “Das hier ist Wanda Lewis, Daddy”, stellte ich vor. “Mit ihrem Bruder George. Und ihrer Cousine Salena.”
    “Sie haben eine nette Tochter”, sagte Salena. “Sie ist uns jederzeit willkommen, mit uns zu angeln.”
    Daddy nickte ihr zu. “Danke.” Er legte mir die Hand auf die Schulter,

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