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Der Tod meiner Schwester

Der Tod meiner Schwester

Titel: Der Tod meiner Schwester Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Diane Chamberlain
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sagte ich betroffen, weil mir Grandpops kleiner Freund so leidtat.
    “Und dann kam ein Mann und begann, Willie zu schlagen und ihn zu beschimpfen, und er sagte, aus diesem Grund …” Grandpop zögerte, und ich hatte den Eindruck, dass er das Gesagte für meine Ohren umformulierte. “Er sagte, aus diesem Grund würden Neger an schönen Orten nicht geduldet, weil sie sich selbst besudelten und so. Du kannst dir vorstellen, wie demütigend diese Erfahrung für Willie war.”
    Das war eine furchtbare Geschichte. Ich dachte daran, wie es sich anfühlen mochte, wenn ich den kleinen Eckladen nicht mehr betreten durfte, zu dem ich mit dem Rad immer hinfuhr, um Süßigkeiten zu kaufen. Ich stellte mir ein Schild an der Tür vor, auf dem stand: Weißen Kindern ist das Betreten verboten. Ich stellte mir vor, wie ich ganz dringend auf die Toilette musste und nicht hineingehen durfte.
    Doch mir war unbehaglich bei dem Gespräch, weil Grandpop damit ausdrückte – nicht direkt, aber unmissverständlich –, dass mein Vater unrecht hatte. Dass er Vorurteile hatte. Mein Vater war ein so guter und bewunderungswürdiger Mann. Es war schwer für mich, den Mann, den ich liebte und respektierte, als einen Fanatiker anzusehen.
    “Dad würde niemals … du weißt, er würde einem kleinen Jungen, der auf die Toilette muss, das niemals verweigern”, verteidigte ich meinen Vater und wünschte mir nichts sehnlicher, als dass mein Großvater zustimmte.
    Grandpop lächelte mir zu. “Damit hast du recht”, sagte er. “Dein Daddy ist ein gerechter Mann. Doch er hat niemals Erfahrungen mit Schwarzen gemacht, deshalb weiß er das, was er sagt, nicht besser. Die Menschen haben meistens Vorurteile, weil sie es nicht besser wissen.”
    Ich war erleichtert. Für einen Moment hatte ich Angst gehabt, dass Grandpop meinen Vater nicht leiden konnte.
    “Weißt du zum Beispiel, dass viele Leute hier deine Großmutter für etwas Schlechteres hielten, als sie hier in New Jersey aufwuchs?”, fragte er dann. “Sie dachten, sie wäre dumm.”
    “Warum?” Ich war verblüfft. “Sie ist doch gar nicht schwarz.”
    “Sie kommt aus Italien. Sie sprach nicht perfekt Englisch. Manche Leute halten das für schlimmer, als schwarz zu sein.”
    Ich dachte daran, was für ein Glück ich hatte, eine italienische Großmutter zu haben. Sie war nett zu meinen Freundinnen, kochte tolle Lasagne und machte zu Weihnachten Kekse mit Rosenwasser und Mandelgeschmack. Es war schwer, sich vorzustellen, dass irgendjemand sie nicht mochte.
    Plötzlich spürte ich wieder einen Ruck an der Leine, der mir diesmal fast die Angel aus der Hand riss. Grandpop steckte seine Angel neben seinem Stuhl in die Erde und kam zu mir herüber, um zu helfen.
    “Diesmal hast du etwas Großes dran, Julie”, freute er sich.
    Er hielt die Angel so fest wie möglich, während ich die größte Flunder an Land zog, die ich jemals in diesem Kanal gesehen hatte. Schreiend und kreischend sprang ich auf und ab, als der Fisch aus dem Wasser kam und wir ihn über den Zaun in den Sand zogen. Er sprang von seiner flachen braunen Seite mit den zwei Augen auf die weiße Seite und wieder zurück, als Grandma und Mom aus dem Haus rannten, um zu sehen, was hier vor sich ging. Lucy kam ebenfalls heraus, blieb aber an der Gittertür der Veranda stehen, weil sie Angst vor dem Fisch oder dem Haken oder dem Wasser hatte. Vor irgendwas eben.
    Mom und Grandma sahen zu, wie Grandpop vorsichtig die Flunder festhielt und ich den Haken entfernte.
    “Das ist ein Prachtstück!” Meine Mutter klatschte begeistert in die Hände.
    “Du hast gewonnen, Julie”, gratulierte mir Grandpop, als er den Fisch in unseren Eimer fallen ließ. Er war fast zu groß, um hineinzupassen. “Ich werde ihn gleich ausnehmen.” Es war die Aufgabe des Verlierers, den Fang zu säubern.
    Ich war stolz auf mich. Während ich meine Großeltern und meine Mutter wieder ins Haus gehen sah, spürte ich plötzlich, dass jemand hinter mir stand. Ich drehte mich um und erblickte Ethan.
    “Das ist die riesigste Flunder, die ich je gesehen habe”, staunte er. “Kann ich die Eingeweide haben?”
    Am nächsten Morgen saß ich auf der Spundwand und sah mir durch ein Fernglas an, wie die Boote in dem aufgewühlten Wasser hinter der Lovelandtown Bridge hin und her geworfen wurden. Grandpop hatte nicht nur “die größte Flunder, die je in den Küstengewässern gefangen wurde”, wie er sie ab jetzt immer nannte, gesäubert, sondern mir auch ein Fernglas

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