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Der Tod meiner Schwester

Der Tod meiner Schwester

Titel: Der Tod meiner Schwester Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Diane Chamberlain
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und ich versuchte, an der Berührung den Grad seiner Verärgerung abzulesen. Neun auf einer Skala von eins bis zehn. Ich hatte Angst, mit ihm zu gehen. Meine Hände zitterten, als ich meine Sachen zusammenpackte.
    “Was ist mit dem Boot?”, fragte ich ihn.
    “Grandpop kann es später holen”, erwiderte er.
    “Tschüss”, verabschiedete ich mich bei den Lewis und folgte dann meinem Vater. Er hatte bereits die Hälfte des Wegs bis zu der sandigen Stelle, wo er parkte, zurückgelegt.
    Er sprach kein Wort, bis wir beide im Wagen saßen und er den Motor startete. Dann sah er mich an und schüttelte langsam den Kopf, als ob er nicht glauben könnte, dass ich seine Tochter war.
    “Was in Gottes Namen glaubst du, tust du auf dieser Seite des Kanals?”, fragte er mit einem kalten Unterton.
    “Angeln”, brachte ich hervor.
    “Glaubst du etwa, sie haben hier andere Fische als auf unserer Seite?”
    Das glaubte ich tatsächlich, wählte aber eine andere Taktik.
    “Grandpop hat gesagt, ich solle versuchen, mich mit ihnen anzufreunden”, rechtfertigte ich mich und krümmte mich innerlich. Wie ekelhaft, die Schuld auf meinen Großvater zu schieben. Aber Daddy glaubte mir sowieso nicht.
    “Du fängst an, zu viel zu lügen, Julie”, warf er mir vor, als er mit dem Wagen auf die Straße bog. “Du hast eine lebhafte Fantasie, das ist schön. Doch du musst den Unterschied begreifen zwischen dem Erfinden von harmlosen Geschichten – die niemanden, auch dir selbst nicht wehtun – und dem Erzählen von Lügen.”
    “Es gibt hier kein Mädchen in meinem Alter, Dad”, beschwerte ich mich und glaubte, gleich weinen zu müssen.
    “Du kannst mit Lucy spielen.”
    “Das würde ich ja, nur will sie ja nie etwas machen.”
    Daddy sah plötzlich traurig aus. Er strich mir sanft übers Haar. Sein Zorn war verflogen und hatte sich in Traurigkeit verwandelt, was fast schlimmer war. “Liebes”, begann er. “Ich weiß, dass du diesen Sommer allein bist. Aber versuch nicht, dich mit den Negern anzufreunden. Das kann zu nichts Gutem führen.”
    “Wanda liest auch Nancy Drew”, versuchte ich ihn umzustimmen.
    “Und wenn sie Dostojewskij liest”, sagte er, wobei seine Stimme ganz ruhig blieb. Ich hatte keine Ahnung, wer Dostojewskij war. “Ich möchte nicht, dass du dort wieder hingehst. Verstanden?”
    “Wenn Izzy es täte, wäre es dir egal”, behauptete ich.
    “Wenn Izzy es täte, würde ich sie ein Jahr lang im Haus einsperren”, widersprach er. Er bog in die Straße, die zur Lovelandtown Bridge führte, und blickte mich dann an. “Du glaubst, dass ich Isabel bevorzuge?”
    “Ich
weiß
, dass du das tust.”
    Er schwieg, während wir über die Brücke fuhren und die Stahlroste unter den Reifen klapperten.
    “Isabel war mein erstes Kind”, sagte Dad, als wir die Brücke überquert hatten. “Sie wird immer einen besonderen Platz in meinem Herzen haben, doch ich liebe euch alle drei gleichermaßen. Es tut mir leid, wenn ich dir jemals Anlass gab, etwas anderes zu glauben.”
    Obwohl ich meinen Vater mit meiner Anschuldigung nicht hatte manipulieren wollen, schien sie sich doch zu meinem Vorteil auszuwirken. Daddy umarmte mich, als wir in unserer Auffahrt ausstiegen, und sagte, dass diese Lektion Bestrafung genug sei. Da weinte ich wirklich, weil ich ihn von ganzem Herzen liebte – und weil ich wusste, dass ich nicht das gehorsame Mädchen sein konnte, das er sich wünschte.
    An jenem Nachmittag saß ich auf der Spundwand, ließ die Füße über dem Wasser baumeln und sah hinüber zu den Lewis, die ihre Sachen packten, um heimzugehen. George und Wanda winkten, und ich winkte zurück.
    “Dein Dad hat dich von drüben geholt, oder?”
    Ich erkannte die Stimme, ohne mich überhaupt umzudrehen.
    “Verzieh dich, Ethan”, brummte ich.
    “Ich finde es toll, dass du hinübergefahren bist”, fuhr er unbeirrt fort.
    Überrascht drehte ich mich um. Er lehnte am Zaun. Die Sonnenbrille, die er trug, hatte ebenso dicke Gläser wie seine normale Brille.
    “Mein Vater und deiner hatten einen Riesenkrach.”
    “Wovon redest du?” Ich zog die Beine hoch und schwenkte zu ihm herum.
    “Dein Vater hat nach dir gesucht, und mein Vater war hier draußen, und dein Vater fragte, ob er Julie gesehen hätte, und mein Vater sagte: ‘Sie ist da, wo sie jeden Tag ist, und angelt auf der anderen Seite des Kanals.’“
    “Dein Vater hat mich verpfiffen?”, fragte ich.
    “Dein Vater sagte, er würde hinüberfahren, um dich zu holen,

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