Der Tod meiner Schwester
hinter ihr war, konnte jedoch den Kopf nicht weit genug herumdrehen. Mir war es unangenehm, sie so erschreckt zu haben.
“Wir sind es nur, Mom”, sagte ich rasch und beugte mich hinunter, um sie auf die Wange zu küssen.
Sie betrachtete ein altes Fotoalbum und versuchte es schnell zu schließen, doch zu spät. Zwischen den vielen Schwarz-Weiß-Bildern entdeckte ich eines, auf dem Isabel in einem hellen Sommerkleid auf der Spundwand stand und in die Kamera winkte. Mein Gott, sie sah aus wie Shannon! Hinter ihr auf dem Kanal sah man ein Segelboot, das Richtung Bucht fuhr. Ich erhaschte einen Blick auf Izzys Grübchen, bevor es meiner Mutter gelang, das Album mit nervös zitternden Händen zu schließen.
“Hallo, Mädchen”, grüßte sie bemüht fröhlich. “Was macht ihr hier?”
Lucy warf mir über den Kopf meiner Mutter hinweg einen besorgten Blick zu. Mom war normalerweise nicht vergesslicher als ich, doch offenbar hatten wir sie in einem privaten Moment überrascht.
“Wir sind gekommen, um dir im Garten zu helfen”, erklärte Lucy.
“Ach ja, richtig.” Unsere Mutter stand auf und zog das Album an die Brust. Meine Schwester und ich taten so, als wäre es nicht da. So machten wir es immer in der Familie: Wir waren Meister darin, den Elefanten im Zimmer komplett zu ignorieren. Wenn wir einfach so taten, als wäre er nicht da, konnte er uns nichts tun.
“Ich ziehe mich nur schnell an und helfe euch dann.” Mit gesenktem Kopf flitzte Mom an uns vorbei, als hoffte sie, wir würden ihre roten Augen nicht bemerken. Offenbar wollte sie sich von uns entfernen, um ihre Fassung zurückzugewinnen. Ihre Unsicherheit tat mir leid. Ich hätte sie gerne berührt. Sie umarmt. Ich hätte sie gern gefragt, was sie so aufgewühlt hatte, doch es war klar, dass sie das nicht wollte. Ich ließ sie an mir vorbeigehen.
“Ich habe Bagels mitgebracht.” Vermutlich wusste Lucy nichts anderes zu sagen.
“Und im Kühlschrank ist Saft.” Mom verschwand durch die Schiebetür.
Lucy und ich sahen uns an.
“Vielleicht hätten wir anrufen sollen, dass wir kommen”, flüsterte Lucy.
“Wie merkwürdig, dass sie gerade jetzt alte Bilder anschaut”, wunderte ich mich.
“Was meinst du mit ‘gerade jetzt’?”
“Du weißt schon”, erwiderte ich. “Neds Brief. Mein Gespräch mit Ethan. Die Erinnerung an Isabels Tod. All das.”
“Zufall”, befand Lucy, besann sich dann aber eines Besseren. “Doch, du hast recht. Es ist schon merkwürdig.” Sie hob die Tüte. “Zimt mit Rosine, Haferkleie oder normal?”, fragte sie.
Wir aßen jede einen halben Bagel in der Küche und ließen die anderen auf dem Tisch für unsere Mutter. Lucy fand einen von Moms alten Gartenhüten im Flurschrank und zog ihn tief ins Gesicht. Dann besprühten wir uns mit Insektenschutz und gingen zum Geräteschuppen im Garten.
Wir öffneten die Tür der muffig riechenden Hütte und holten uns die Gartengeräte.
“Irgendwas Neues von Ethan?” Lucy warf mir einen erwartungsvollen Blick zu, während wir Harken, Spaten und Kniepolster in die Schubkarre luden.
Ich lachte. “Es ist erst … wie viel? Erst zehn Stunden her, dass du mich das gestern Abend gefragt hast.” Ich spürte, wie die Hitze in mir aufstieg, erst meinen Kopf zum Glühen brachte und dann über meine Wangen und meinen Nacken nach unten wanderte. Ich nahm meinen Hut ab und fächelte mir Luft zu.
Lucy lachte. “Eine winzige Bemerkung über Ethan, und sieh nur, was mit dir geschieht.”
Ich war nicht wirklich verärgert. “Warte nur ein paar Jahre”, entgegnete ich. “Ich werde nicht vergessen, wie wenig mitfühlend du warst, als ich das hier durchmachen musste.”
Ich setzte den Hut wieder auf, und gemeinsam schoben wir die Schubkarre in den Garten.
“Meinst du, der Sex könnte schwierig werden?”
Ich starrte Lucy entgeistert an. “Wovon sprichst du?”
“Ich meine …” Sie wirkte völlig arglos. “Du weißt schon, du in der Menopause und all das.” Lucy hatte das Talent, die diffizilsten Themen in völliger Unschuld anzusprechen. “Sagen wir mal, du würdest deine Einwände gegen eine Beziehung mit Ethan überwinden und –”
“Ich bezweifle sehr, dass ich das könnte.” In einer Ecke des Gartens blieb ich mit der Schubkarre stehen und zog eine Harke heraus. “Und selbst wenn ich eine Beziehung mit ihm wollte, bezweifle ich, dass er eine mit mir wollte.” Ich begann den Boden zwischen den Tomatenpflanzen zu bearbeiten. Der Garten war noch immer jenes viel
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